Der Ministerpräsident - ein Roman
und nicht zurücktreten und dann unmittelbar vor meiner Entlassung meinen Rücktritt erklären. Das sei unglaubwürdig.
Wolkenbauer: Es gehe nicht um Glaubwürdigkeit, sondern um meine Gesundheit. Es gehe um Zeit, die mir eingeräumt werde, wieder gesund zu werden. Darum gehe es.
März winkte ab.
Frau Wolkenbauer: Ein Mensch hat das Recht zu wissen, wer er ist.
März: Er ist Ministerpräsident.
Wolkenbauer: Auch ein Ministerpräsident hat das Recht zu wissen, wer er ist.
März: Er ist Ministerpräsident, und wird es auch bleiben.
Wolkenbauer: Er hat nicht nur das Recht zu wissen, wer er ist, sondern auch zu erfahren, wer er einmal war und eigentlich sein möchte.
März: Dass der Ministerpräsident nie etwas anderes habe sein wollen als Ministerpräsident. Dass ich nicht einfach, mir nichts, dir nichts, zurücktreten könne. Am allerwenigsten jetzt, kurz vor einer Landtagswahl. Wie sie sich das vorstelle …
Wolkenbauer: Indem er einfach zurücktritt. In ganz einfachen Worten. Hiermit trete ich zurück.
März: Dass das eine Katastrophe wäre, eine Katastrophe für die Partei und für das Land. Was das bedeuten würde: eine Partei ohne Spitzenkandidat. Zwölf Wochen vor der Wahl. Rücktritt. Dass man ein solches Wort nicht einmal denken, geschweige denn aussprechen dürfe. Er erinnerte sie an ihre ärztliche Schweigepflicht. Dass man der Partei einen solchen Rücktritt (ein Rücktritt zur Unzeit) nie verzeihen würde. Dass die Wahl damit verloren wäre. Und mit der Wahl das Land – in den Händen der Opposition. Nach einem halben Jahrhundert fortwährenden Regierens. Wie sie sich das vorstelle. Dass es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern würde, bis die Partei wieder Regierungsverantwortung übernehmen dürfe. Dass ein Ministerpräsident nie allein abtrete, sondern mit seinem Abtritt unzählige Menschen mit sich reiße. Dass er, März, verheiratet sei und Kinder habe. Dass unzählige Mitarbeiter verheiratet seien und Kinder hätten. Dass zahllose Menschen von einem solchen Rücktritt betroffen wären. Dass es jetzt an mir sei, zu entscheiden, wer ich sein wolle oder nicht sein wolle, ob Ministerpräsident oder nur eine Episode, eine Fußnote, eine entfernte Erinnerung …
Er lief auf und ab, musterte die Wände und das Fenster: Als ob irgendjemand von all dem gehört haben könnte. Dann legte er seine Hand auf meine Schulter: Dass wir das gemeinsam durchstehen würden. Dass wir uns nicht auseinanderbringen lassen würden. Er brachte mich auf mein Zimmer, während ich ihm erklärte: Dass Frau Wolkenbauer das so nicht gemeint habe. Dass sie sich für Politik nun einmal nicht interessiere, sich darin überhaupt nicht auskenne – dass man das Wort Rücktritt im Übrigen auch ganz anders verstehen könne. Ich werde getreten, also trete ich zurück. Auch so könnte man das verstehen.
März, der gereizt reagierte, sagte, dass man sich mit einem solchen Wort keinen Spaß erlauben dürfe. Unter keinen Umständen. Ich dürfe nicht einmal im Schlaf an so etwas denken. Nicht einmal im Schlaf.
Als ich am Abend Frau Wolkenbauer rief, kam sie nicht. Ich wollte mit ihr über Erinnerungen sprechen, zum Beispiel eine Erinnerung an einen Geburtstag, den ich während meiner Kindheit erlebt hatte. Ich durfte an diesem Geburtstag einen Freund einladen. Das war etwas Besonderes. Vielleicht sogar etwas Einmaliges. Weil ich sonst nie Freunde zum Geburtstag einladen durfte. Er kam nachmittags. Gemeinsam saßen wir an einem runden Tisch und tranken Limonade und aßen Kuchen. Wir saßen feierlich. Wir sprachen kaum, doch wir saßen feierlich an einem Tisch. Fast wie Erwachsene. Das war es, woran ich mich erinnerte, die Feierlichkeit von all dem. Und ich wollte mit Frau Wolkenbauer darüber sprechen, ob das eine wirkliche Erinnerung war, oder ob ich mir diese Erinnerung womöglich nur eingebildet hatte. Vielleicht hätte sie gesagt: Was ist der Unterschied.
Doch sie kam nicht. Eine Pflegerin sagte: Sie, Frau Wolkenbauer, habe Zimmerverbot. Sie sagte das im Spaß, vielleicht meinte sie es aber auch ernst.
Was ich ihr ebenfalls erzählen wollte: Als ich vor dem Röntgenzimmer saß und auf sie gewartet hatte. Das Wartezimmer war fast leer gewesen. Es saß dort nur ein einziger Mensch – hinter einer Wand. Nur die Beine und seine gefalteten Hände konnte man sehen. Und obwohl er eigentlich nicht zu sehen war, hatte ich ihn deutlich vor Augen: das Bild eines Menschen, der geduldig sitzt und wartet. Kein drängendes Warten, sondern ein
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