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Der Ministerpräsident - ein Roman

Der Ministerpräsident - ein Roman

Titel: Der Ministerpräsident - ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer , Meyer GmbH , Co.KG
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natürlich Schiller.
    Natürlich Schiller.
    Friedrich Schiller.
    Friedrich Schiller. Wer noch?
    Schiller. Er schaute vom Eingang unseres Gymnasiums herab. Er schaute direkt auf den Schulhof. Er wirkte noch jung. Als wäre er selbst Schüler an unserer Schule gewesen. So jung wirkte er. Also Schiller. Natürlich waren da noch andere Dichter, die man nennen könnte. Dichter wie … Dichter, die zweifellos da waren, in entfernten Erinnerungen, die mir nur entschwunden waren. Gerade weil sie so selbstverständlich immer da gewesen waren, weil ich sie so oft ausgesprochen hatte, fast so oft wie Montag, Dienstag, Mittwoch, gerade deshalb waren sie mir nun entschwunden.
    Ich versuchte, ihr das zu erklären. Dass das eine Folge des Unfalls sei. Dass mit einem Schlag die Namen wieder zurückkommen würden. Doch Hannah sagte: Es sei gar nicht der Unfall. Ich hätte mein Leben lang nur ein paar Namen im Mund getragen.
    Sie reichte mir Bücher. Bücher, die sie selber gerade las oder in letzter Zeit gelesen hatte. Zum Beispiel ein Buch von Franz Kafka. Als ich das Buch in den Händen hielt, war mir der Name wieder vertraut. Oder ein Theaterstück von Heinrich Leopold Wagner. Es hatte den Titel Die Kindermörderin . Warum sie solche Bücher lese? Die Kindermörderin . Weil sie gerne Bücher lese, die zum Äußeresten gehen, sagte sie. Sie zeigte mir auch ein Gedicht von Schiller. Es hatte fast denselben Titel: Die Kindsmörderin . Vielleicht zeigte sie es mir, um zu zeigen, wie sehr die Dinge zusammenhängen. Vielleicht.
    Ich las Hannahs Bücher nachts, manchmal auch tags, dann lagen ihre Bücher zwischen Aktenordnern versteckt. Ich las sie, wenn März nicht da war oder wenn März telefonierte, denn er war eigentlich fast immer da. Und ich fragte ihn, welche Bücher er gerne lese? Und er wirkte perplex. Was das für eine Frage sei. Er lese Wahlpapiere. Parteiprogramme. Akten. Gesetzesvorlagen … Und einiges mehr. Doch ich fragte ihn nach Büchern. Welche Bücher er gerne lese? Und er winkte ab. Dazu fehle jede Zeit. Ob ich nicht sehe, was hier los sei. Er habe früher einmal Bücher gelesen. Zum Beispiel als Student. Welche Bücher? – fragte ich. Und er antwortete: Zum Beispiel das Buch, das er Frau Wolkenbauer gegeben hatte. Die zwei Körper . Von Ernst Kantorowicz. Eine Studie politischer Theologie. Das sei ein Buch, das ihn bewegt habe und immer noch bewege. Und ich sagte ihm, dass auch ich dieses Buch gerne lesen würde. Doch März entgegnete: Dazu sei keine Zeit. Der Hechinger Parteitag. Er rücke näher und näher. Es waren nur noch fünf Tage, die uns blieben. Und März sagte: Meine Umfragewerte, sie seien bedrohlich, die schlechtesten Umfragewerte seit Monaten … Doch er sagte das so, als hätte er keine Angst mehr vor diesen Werten. Er erlebte sie fast gelassen. Wie ein Luftholen und Anlaufnehmen vor gewaltigen Ereignissen: meine Entlassung aus der Klinik und dann der Parteitag …
    Frau Caillieux erklärte, der Parteitag, er sei ein turnaround . Das Herumreißen des Steuers zu rechten Zeit. Oder eine Form von politischer Dialektik, wenn sich Extreme innerhalb von Stunden ins Gegenteil verkehrten. Sie saßen gemeinsam, Caillieux und März, an einem Tisch und studierten Umfragekurven, die fast so aussahen wie Blutdruckkurven. Sehen Sie mal, Herr Urspring, rief Frau Caillieux, sehen Sie diese Umfragekurve. Die Kurve ging steil nach oben (mit meinem Unfall), sackte dann ab, nach nur vier Wochen Krankenhaus, bäumte sich noch einmal auf, nach dem Interview mit Peter Sloterdijk, um seither stetig bergab zu gehen, ein Absacken aller Sympathie-, Besorgnis-, Mitfühl- und Vertrauenswerte. Nichts als Schwundwerte. Die Menschen, sie fragen sich: Was ist denn nun? Man hört ja nichts. Es passiert ja nichts.
    Doch mit dem Sonderparteitag, so März, werde sich all das innerhalb von Stunden wenden, werden sich Fragen zu umfassenden Antworten bündeln: Ja, der Ministerpräsident wird aus dem Krankenhaus entlassen. Ja, er ist arbeitsfähig. Er wird auf dem Sonderparteitag eine Rede halten. Nicht irgendeine Rede, sondern eine fünfundfünfzigminütige Grundsatzrede. Die Rede, sie war nun fertig gesprochen. Und März war zufrieden mit dieser Rede. Man musste die Rede nur noch synchronisieren, sie mit Mund- und Gesichts- und Handbewegungen begleiten. Doch dies seien nur noch Feinarbeiten, die eine Physiotherapeutin mit mir üben sollte: die Kopfhaltung während der Rede, entschiedene Nickbewegungen während der Rede, aufmunternde

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