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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
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ihrer Rache zu fürchten. Nur noch eine Sache musste er erledigen.
    Er griff in den Köcher und legte einen Pfeil in die Sehne seines Bogens. Lautlos glitt er auf die Handelsstraße hinab. Seine Nervenstränge vibrierten und sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, aber er durfte jetzt nicht zaudern. Von Anfang hatte er gewusst, dass er allein dazu imstande sein würde, den Dorfschulzen zu erledigen. Es ist besser, dachte August, wenn ich ihm nicht zu nahe komme. Am besten töte ich ihn gleich jetzt, solange er mir noch den Rücken zukehrt und seine Wunde untersucht. Der freie Bauer zielte genau und ließ den Pfeil losschwirren. Das Geschoss bohrte sich von hinten durch den Hals des Dorfschulzen, der völlig überrascht herumwirbelte. Die geschmiedete Spitze ragte einen Fingerbreit unterhalb des Kehlkopfes aus der Haut. Vorsichtshalber legte August einen zweiten Pfeil nach, aber er erkannte schnell, dass dieser nicht nötig
war. Der Dorfschulze schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, rosa Speichel sickerte ihm aus dem Mundwinkel. Seine Beine gaben nach und er fiel auf die Hände und Knie. Er bebte am ganzen Leib, während er wie ein Köter auf dem Boden hockte.
    August fühlte eine hysterische Freude in sich aufsteigen. Wer hätte gedacht, dass es so leicht sein würde, diesen heldenhaften Kämpfer zu besiegen. Ach, wenn er genau darüber nachdachte, war es gar nicht leicht, sondern verteufelt schwer gewesen. Nur hatte diese Aufgabe einen Mann erfordert, der dem Dorfschulzen in jeglicher Hinsicht überlegen war. Und dieser Mann war zweifellos er: August, der freie Bauer aus Aue. Die Kinder sollen über mich Geschichten erzählen und nicht über den da!, dachte er und rief: »He, schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede! Erkennst du mich nicht? Weißt du nicht, wer ich bin? Keine Gelegenheit hast du ausgelassen, um meinen Vater mit Dreck zu beschmeißen. Jetzt dreh ich den Spieß um. Hörst du? Jetzt stopf ich dir dein freches Lügenmaul! Ja, du hast ganz recht gehört! Ich stopf dir...«
    August verschlug es die Sprache. Abrupt hielt er inne. Er war nur noch zwei Pferdelängen vom Dorfschulzen entfernt und konnte kaum glauben, was er da sah. Dankwart stemmte sich auf die Beine. Sein Gesicht hatte sich blau verfärbt, an seiner Stirn pochten Adern so dick wie Hanfseile - es konnte nur noch wenige Herzschläge dauern, bis er erstickt war -, aber seine hellen Augen leuchteten in einer Klarheit, die nicht von dieser Welt war. Mit einer tödlichen Ruhe schätzte der Dorfschulze die Entfernung seinerseits ab und zog ein Messer mit Hirschhorngriff aus der ledernen Scheide. Er würde doch nicht...

    »Nein!«, schrie August und ließ den Bogen fallen. Er wirbelte herum, zog die Arme an den Körper und lief davon. Panisch drehte er den Kopf nach hinten und sah gerade noch, wie Dankwart den Arm hob und das Messer nach ihm schleuderte. August wurde bewusst, dass er einen schrecklichen Fehler begangen hatte. »Das ist ungerecht!«, rief er. »Bitte nicht...« Er hatte geglaubt, dass der Dorfschulze widerstandslos krepieren würde. Jetzt musste er für seinen Irrtum bezahlen.

8.
    Zwei Tage später träumte Agnes, dass sie wieder die umworbene Jungfrau war. Sie war auf dem Erntedankfest in Ambringen und vergnügte sich mit ihren Freundinnen. Ein sehniger, blonder Jungmann namens Dankwart bahnte sich einen Weg durch die Menge. Seine blauen Augen leuchteten so stark, dass es ihr durch Mark und Bein ging. Seltsamerweise wusste sie sofort, dass er sie ansprechen wollte, und ihr war ebenso klar, dass sie seiner Aufforderung zum Sprungtanz folgen würde. Schnell griff sie nach oben, um den Sitz ihres Blumenkranzes zu prüfen. Aber was war das? Fassungslos tastete sie ihren Kopf ab: Unter ihren Fingerspitzen spürte sie kein einziges Haar. Ihr Schädel war vollkommen kahl - sie hatte eine Glatze!
    Voller Entsetzen wollte sie eine Entschuldigung gegen den Jungmann stammeln, aber sie brachte kein verständliches Wort heraus, sondern nur ein Genuschel, das so ähnlich klang wie »Uh - uh - umpf«. Mit böser Vorahnung tastete sie ihren Mund ab und stellte fest, dass all ihre Zähne ausgefallen waren. Sie drehte ihre Handrücken ins
Tageslicht und entdeckte prompt darauf zahllose Altersflecken . Kraftlos sank sie auf die Bank vor der Adlerburg und beobachtete, wie die Sonne über den ganzen Himmel wanderte, bis sie im Abendland versank. Die Dunkelheit war so absolut, dass nicht der kleinste Lichtschimmer zu ihr drang.

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