Der Minnesaenger
einen konnten sie sich absichern, bevor sie riskante Maßnahmen ergriffen, zum anderen ergänzten sich ihre Fähigkeiten erstaunlich gut. Während die Jüngere sichere Diagnosen stellte, hatte die Ältere eine Meisterschaft bei der Herstellung von Arzneien entwickelt.
Nachdem sie eine Wöchnerin besucht hatten, die unter starkem Ausfluss litt, wollten sie sich mit einer gemeinsamen Mahlzeit stärken. Auch neben ihrer Tätigkeit als Heilerinnen verbrachten sie viel Zeit miteinander. In langen Gesprächen gaben sie sich gegenseitig Halt und tauschten ihre Gedanken aus, was für beide sehr bereichernd war.
Plötzlich blieb Judith stehen und schaute auf einen Mann, der am Tor lehnte und offenbar auf sie wartete. »Das ist Vater. Sonst besucht er mich nur bei Dunkelheit, wenn ihn niemand sehen kann.«
Agnes schüttelte missbilligend den Kopf. »Ich verstehe
nicht, warum Mechthild eine solche Quertreiberin geworden ist.«
»Vater«, rief Judith. »Es freut mich, dass du gekommen bist. Ich habe heute Morgen Brotkuchen mit Blaubeeren gebacken. Willst du ihn mit uns teilen?«
»Das würde ich gerne, mein Täubchen, aber ich bin aus einem anderen Grund hier. Deine Mutter ist sehr krank. Ich brauche deine Hilfe.«
Judith hatte lange nicht mehr mit der Mutter gesprochen. Wenn sie ihr durch Zufall am Bach begegnete, starrte Mechthild sie nur hasserfüllt an und ging grußlos davon. Das feindselige Verhalten schmerzte Judith sehr, weil sie nicht wusste, was sie ihr getan hatte. »Was fehlt ihr denn?«
»Sie hatte ja schon immer Kopfschmerzen, aber vor einem halben Jahr wurden sie so schlimm, dass sie sich die Haare ausriss. Dann ging es ihr plötzlich besser und wir dachten schon, dass sie wieder gesund wäre.«
»Aber dem war nicht so?«
»Kopfschmerzen bekam sie keine mehr, dafür kann sie sich jetzt nicht mehr richtig bewegen. Manchmal sacken ihr die Beine weg und sie stürzt zu Boden. Dann hebe ich sie auf und trage sie nach Hause.« Der Bauer Kilian presste die Lippen aufeinander. »Sie wiegt ja kaum noch etwas. Sie ist so leicht wie ein Kind! Seit Wochen kriegt sie keinen Bissen mehr herunter.«
Judith berührte den Vater sanft am Arm. »Hat sie noch andere Beschwerden?«
»Manchmal kann sie nichts mehr sehen«, platzte der Bauer heraus.
»Ist schon gut«, sagte Judith.
Agnes hatte unterdessen den Beutel von der Schulter genommen
und den Inhalt durchsucht. »Ich habe alles dabei, was wir brauchen. Wir können aufbrechen.«
Als Judith wenig später ihr Elternhaus betrat, ergriff sie eine heftige Wehmut. Es hatte sich kaum etwas verändert. Noch immer bildete der Tisch den Mittelpunkt des Wohnraumes. Mittlerweile war er an allen Ecken angestoßen und wies zahllose schwarze Flecken auf. Damit ähnelt er mir mehr, als die anderen glauben würden, dachte Judith.
Das wehmütige Gefühl verschwand sofort, als sie ihre Mutter daliegen sah. Sie hatte kaum noch etwas Menschliches an sich. Die Gesichtshaut spannte sich so straff über den Schädel, als könnte sie jeden Moment reißen. Über den eingesunkenen Augäpfeln lagen zwei bläuliche Lider, die beinahe durchsichtig waren. Ihre Lippen wirkten blass und hart.
»Vielleicht schläft sie«, sagte Kilian. »Vielleicht ist sie aber auch bewusstlos. In letzter Zeit passiert das öfters.«
Judith blickte Agnes fragend an. Schon vor Jahren hatte sie ihr anvertraut, dass sie ein besonderes Gefühl in den Händen hatte. Die Altere hatte sie ermuntert, diese Gabe als Geschenk zu betrachten und sie weiter zu vervollkommnen, um sie in den Dienst der Menschen zu stellen. Mittlerweile nannte Judith ihre Fingerspitzen das »dritte Auge«.
Nachdem Agnes ihr zugenickt hatte, setzte Judith sich an das Kopfende und bettete den Kopf der Mutter in ihren Schoß. Behutsam tastete sie den Schädel ab und schloss die Augen. Sie überließ sich ganz ihren Empfindungen, und es dauerte nur wenige Momente, bis sie die zehrende Hitze im Schläfen- und Stirnbereich spürte. Vor ihr geistiges Auge schoben sich Bilder von einer Geschwulst, die so groß wie ein Hühnerei war. Zweifellos war sie bösartig
und schon sehr weit fortgeschritten. Judith war klar, dass ihre Kräfte nicht ausreichen würden, um das Wachstum aufzuhalten. Sie öffnete die Augen und blickte ihren Vater an. »Es tut mir so leid. Wenn ich früher gekommen wäre, hätte ich vielleicht etwas tun können, aber so...«
»Dich trifft keine Schuld«, sagte der Vater. »Deine Mutter wollte es nicht anders. Seit deiner Heirat ist
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