Der Minnesaenger
Du, mein Junge, kommst als Erster dran«, sagte er und zeigte auf einen Gassenjungen in der vordersten Reihe.
»Ich?«, fragte dieser ungläubig und riss die Augen so weit auf, dass sie in dem schmutzigen Gesicht aufleuchteten.
»Wie heißt du?«
»Ottokar, Herr!«
»Und womit verdienst du deinen Lebensunterhalt?«
»Mit Betteln«, schrie ein Mann aus der Menge. »Jeden Tag steht er beim Martinstor und geht uns auf die Nerven.«
»Ist das wahr?«
»Ich fürchte ja, Herr, aber ich bin nicht arbeitsscheu. Es ist nur schwer, eine Anstellung zu finden. Bei allen Handwerkern habe ich vorgesprochen, aber keiner hatte einen Platz frei.«
»Was würdest du am liebsten anfangen?«
»Herr«, erwiderte der Junge schüchtern, »am liebsten wäre ich Bäcker, dann hätte ich immer was zum Fressen.«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte der Herzog und griff in die Kiste. »Jetzt nimm erst einmal diese Münze und später will ich sehen, ob ich dir eine Lehrstelle kaufen kann.«
»Herr, wenn Ihr das tut, werde ich Euch ewig danken.«
»Mir wäre es lieber, wenn du für mein Seelenheil beten würdest.« Durch eine Handbewegung entließ der Herzog den Jungen und sagte zu Hartmann: »Kümmere dich darum.«
Der Winzer brachte die Fässer, der Schankwirt die Krüge und der Bäcker zahllose Teigwaren. Einige Musikanten holten ihre Instrumente und spielten Lieder, zu denen immer mehr Bürger tanzten. Bald versank die Sonne hinter den Häusern und die Dunkelheit legte sich über den Münsterplatz. Fackeln wurden entzündet. Nacheinander traten alle Bürger vor den Herzog hin. Einige hatten es auf das Geldgeschenk abgesehen, andere ließen sich von der allgemeinen Aufregung mitreißen, aber die meisten brachten
ihre ehrliche Sorge über den Gesundheitszustand des Herzogs zum Ausdruck.
»Herr«, sagte Hartmann irgendwann. »Ihr seht erschöpft aus. Wollt Ihr zurück auf die Burg?«
»Von wollen kann keine Rede sein, aber es wird Zeit! Ich kann die Augen kaum noch offen halten«, sagte er und wandte sich an den Marschall: »Bitte lenk du dieTiere, damit Hartmann bei mir sitzen kann.«
Als sich der Karren in Bewegung setzte, lehnte sich Hartmann gegen die Seitenwand und beobachtete, wie der Herzog die letzten Segenswünsche mit einem Winken entgegennahm. Der Jubel der Leute entfernte sich, bis er kaum noch zu hören war. Unter dem ewigen Sternenhimmel polterten sie dahin.
»Herr«, sagte Hartmann, »ich bete jeden Tag darum, dass Gott Euch eine baldige Genesung schenkt. Aber Ihr sagt selbst, dass es mit Euch zu Ende geht. Und ich wäre untröstlich, wenn ich Euch nicht gedankt hätte. Ihr sollt wissen, dass ich niemals vergessen werde, was Ihr für mich getan habt. Weil Ihr an mich geglaubt habt, war es mir möglich, der zu werden, der ich heute bin. Wenn Ihr uns verlasst, Herr, werde ich Euch sehr vermissen.«
Als der Herzog nach der Hand seines Dichters griff, hellte sich sein Gesicht ein letztes Mal auf. »Ich weiß«, sagte er.
DreiTage später, im Morgengrauen des 8. Dezember, verstarb Berthold IV, Herzog von Zähringen und Rektor von Burgund, der Mäzen, der Hartmann von Aue zeitlebens gefördert hatte.
Dritter Teil:
Kreuzzug und minne
Im Jahre des Herrn 1187
1.
Als die Bäume im nächsten Jahr endlich Knospen trugen, lud BertholdV seine Lehnsherren zu einem Festgelage ein. Während die Gäste im Schlosshof eintrafen, lag Hartmann auf dem Strohlager in seiner Kemenate und stimmte die Harfe. Noch vor wenigen Monaten hätte er die Edelleute selbst begrüßt, aber der neue Herzog hatte ihm ausrichten lassen, dass sein Erscheinen erst zu seinem Auftritt erwünscht wäre.
In den vergangenen Tagen hatte der Truchsess ihn mehrmals ermahnt, am heutigen Abend nur Tanzlieder vorzutragen, aber Hartmann hatte sich etwas Besonderes einfallen lassen. Er konnte es kaum erwarten, endlich gerufen zu werden und die Reaktion auf seinen Vortrag zu beobachten. In jedem Fall würde sie interessant ausfallen.
Manchmal verstand er die Menschen einfach nicht. Der Leichnam seines Herrn war noch nicht zwei Tage unter der Erde gewesen, da hatten die Wachen schon das schwarze Banner eingeholt. Unentwegt waren Herolde eingetroffen und hatten BertholdV gehuldigt. Das Dienstpersonal hatte sein Tagewerk aufgenommen, als wäre nichts geschehen. Begriffen sie denn nicht, wie endgültig der Tod war? Hatten sie schon vergessen, wie gütig ihr alter Herr gewesen war?
Hartmann brütete finster vor sich hin, als ein Edelknabe mit blonden Locken
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