Der Minnesaenger
Hartmann bemühte sich, ein paar freundliche Worte zu finden, die der Magd gerecht wurden, und scheiterte kläglich. Wie sollte er eine Zurückweisung auch ausdrücken, ohne sie vor den Kopf zu stoßen?
Umständlich erhob er sich von dem Schemel und schwankte durch die Badestube. Er legte die Hände auf die Holzkante und stieg in das heiße Wasser. Dann hielt er sich die Nase zu, glitt unter die Oberfläche und verlor sich in der Stille. Wie schön es doch wäre, wenn er einfach hier unten bleiben könnte...
Das Verlangen nach Luft war stärker und er tauchte wieder
auf. Hartmann orderte einen neuen Krug mit Beerenwein und hing seinen Gedanken nach. Bis zum Tod seines Herrn hatte er sich ganz dem höfischen Dienst verschrieben. Er hatte von früh bis spät geschuftet, um keine störenden Gefühle aufkommen zu lassen. Jetzt, da er auf sich selbst zurückgeworfen war, begriff er nicht zum ersten Mal, wie einseitig und lieblos sein Leben gewesen war. Er fragte sich, was er tun konnte, um wieder mehr Zuversicht zu haben.
Sofort musste er an Judith denken. Sie verkörperte alles, was er sich wünschte. So gerne würde er etwas Zeit mit ihr verbringen und mit ihr über seine Situation sprechen. So gerne würde er den Klang ihre besänftigende Stimme hören. So gerne würde er sie noch mal in den Arm nehmen und ihre Wärme spüren.
Vor vielen Jahren hatte er etwas in ihr entdeckt, das ihn gefesselt hatte, das ihn seitdem nicht mehr losgelassen hatte und wonach er sich immer sehnen würde. Wieder fiel ihm die Liedstrophe ein, die er erst gestern gedichtet hatte. »... und sie wird immer Ziel meines Lebens bleiben...«
Im Jahre des Herrn 1889
1.
Judith war in den vergangenen Jahren so in ihrer Heiltätigkeit aufgegangen, dass sie nicht einmal auf die Idee gekommen wäre, dass ihr Leben noch einmal eine grundlegende Änderung durchmachen könnte.
An jenem warmen Frühlingstag war sie vom Lepraausschuss als Gutachterin bestellt worden. Ungefähr zwanzig Männer, Frauen und Kinder hatten sich im großen Sitzungssaal des Bürgerhauses eingefunden. Der Reihe nach traten sie vor und Judith prüfte, ob ihre Haut von braunroten Flecken befallen war. Bei lediglich zwei Männern erhärtete sich der Lepraverdacht, so dass sie sich weiter zur Verfügung halten mussten. Die anderen waren zu Unrecht diffamiert worden und wurden in die Freiheit entlassen.
Mit Hilfe eines Spreizers suchte Judith nach Geschwüren in der Nase, durch die Singprobe fand sie heraus, ob Verwachsungen am Kehlkopf die Stimme beeinflussten, die Nadelprobe diente der Feststellung von Sensibilitätsstörungen, die Daumenprobe gab Aufschlüsse über etwaigen Muskelschwund und in der Seih- und Blutprobe suchte sie nach Rückständen.
Sie nahm sich viel Zeit und gab sich die größte Mühe. Wenn sie einen Fehler machte, könnte das schlimme Folgen
haben: Würde sie einen Kranken entlassen, so bestände die Gefahr, dass er seine Verwandten und Nachbarn anstecken würde. Befände sie dagegen einen Gesunden irrigerweise für krank, so würde sie die Verantwortung für seine Ausstoßung aus der Gemeinschaft tragen.
Der Hautausschlag bei dem Köhler entpuppte sich glücklicherweise als Hautflechte, der Bader hingegen war ohne jeden Zweifel von der Lepra befallen. Alle Proben bestätigten den Anfangsverdacht. Der Mann hatte jedoch Glück im Llnglück: Er gehörte dem Kirchspiel an, war Bürger der Stadt Freiburg und verfügte über genügend Vermögen, um eine Eintrittsschenkung darzubringen. Zudem war gerade ein Platz im Melatenhaus freigeworden, so dass er bis zu seinem Lebensende versorgt sein würde und sich nicht wie die vielen mittellosen Kranken auf Wanderschaft begeben musste.
Nach Bekanntgabe des Befundes durch denVorsitzenden des Ausschusses lief Judith zum Turmhaus, um Verbandszeug, Salbeiblätter und Wundtinkturen in ihre Kräutertasche zu packen. Schnell kehrte sie zurück und bekam gerade noch die Ausstoßung mit. Während im Münster die Totenmesse zelebriert wurde, las ein Geistlicher aus der Leprösen-Vorschrift vor:
»Es ist dir verboten, jemals in die Kirche, ins Badehaus, auf den Markt, in die Mühle, in die Bäckerei und auf Versammlungen zu gehen. Du sollst weder mit deiner Ehefrau noch mit einer anderen Frau Umgang haben. Wenn dir jemand begegnet und dich anspricht, sollst du nicht antworten, ehe du aus dem Wind gegangen bist...«
Judith empfand großes Mitleid mit dem Mann. Gerade Schwerkranke brauchten normalerweise Beistand. Die
Leprösen
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