Der Minnesaenger
im Eingang erschien und zu ihm sagte: »Es ist so weit. Ihr seid gleich nach dem Jongleur dran!«
Hartmann stieg die Stufen zum Burghof empor. Während er um das Herrschaftsgebäude herumging, tönte aus dem Palassaal lautes Johlen. Er stieg die Freitreppe hinauf und betrat den Steinsaal. Ein Schwertschlucker, ein Hundebändiger, drei Tänzerinnen und ein Tierstimmenimitator warteten auf ihren Auftritt. Von März bis November zogen sie von Burg zu Burg und unterhielten den Adel. Als Gegenleistung bekamen sie eine Mahlzeit und ein Dach über dem Kopf. Einige von ihnen kannte Hartmann gut. Noch vor wenigen Monaten hatte er selbst entschieden, wer seine Kunst darbieten durfte und wem es an Talent fehlte. Heute saß er mitten unter ihnen.
Ein Edelknabe schob den Vorhang zur Seite und der Jongleur, beladen mit Kugeln und Keulen, trat in den Steinsaal. Hartmann konnte sehen, wie der Truchsess vor die Festgesellschaft trat und seinen Stab auf den Boden schlug. »Dem Herzog«, sagte er, »ist es eine besondere Freude, einen Mann zu präsentieren, den ein jeder hier im Saal kennt. Sein Name steht für höfische Tugenden und die hohe Kunst des Minnelieds. Verehrte Gäste, begrüßen Sie mit mir Hartmann von Aue.«
Die Edelleute trommelten mit den Fäusten auf die Tafel. Hartmann schritt durch den Steinsaal und schob sich in den Palassaal. Am Ende der Tafel blieb er stehen und stellte mit Genugtuung fest, dass nicht einmal Blütenblätter gestreut waren. Sein verstorbener Herr hätte selbst im tiefsten Winter keine Kosten gescheut, um seine Gäste durch den Anblick einiger Trockenblumen zu erfreuen. Würdevoll
verbeugte sich Hartmann, setzte sich auf den bereitgestellten Schemel und legte sich die Harfe auf den Schoß. Mehrmals ließ er seine Finger über die Saiten streichen, bevor er eine melancholische Melodie anstimmte, die zu seinen schönsten Kompositionen zählte.
»Dieses Lied habe ich zum Gedenken an Berthold IV von Zähringen, den ich immer als gütigen Herrn in Erinnerung behalten werde, geschrieben«, sagte er. »Es handelt von einer Witwe, die über den Verlust ihres Gemahls nicht hinwegkommt.« Hartmann summte die Melodie zuerst leise mit, dann sang er mit seiner vollen rauen Stimme: »Dies wären wunderbare Tage, wenn / einem vergönnt wäre, froh und unbeschwert zu leben. / Aber mir hat Gott es so gefügt, / dass mich in dieser schönen Zeit ein Leid bedrückt, / von dem ich nie mehr erlöst sein werde. / Ich habe einen Mann verloren: / Niemals hat einer Frau - was ich sage, ist die Wahrheit - / der geliebte Freund mehr bedeutet. / Solange ich ihm Gutes tun konnte, war er meine Freude. / Nun muss sich Gott seiner annehmen; er kann es besser als ich...«5
Nachdem er geendet hatte, verbeugte er sich vor dem Publikum. Die meisten Gäste hatten ein Tanzlied erwartet, das besser zu ihrer ausgelassenen Stimmung gepasst hätte. Von der Schönheit und Traurigkeit der »Witwenklage« fühlten sie sich überrollt.
Der Marschall fasste sich zuerst und erhob sich von seinem Sitzkissen. »Bravo«, rief er. »Das Lied hat mich gerührt. Auch unserem Herrn hätte es gefallen, da bin ich mir sicher. Komm und setze dich zu mir. Ich kann etwas zur Seite rücken, dann haben wir beide Platz.«
Einige Edeldamen stimmten in den Applaus des Marschalls
ein, verstummten aber, als Berthold V. rief: »Er wird sich nicht an die Tafel setzen. Du kannst jetzt gehen, Hartmann!« Dann wandte er sich demTruchsess zu: »Was steht als Nächstes auf dem Programm?«
»Ein Hundebändiger, Herr!«
»Oh«, rief BertholdV, »ein Hundebändiger! Das ist gut, das wird sicher lustig. Worauf wartest du noch? Ruf ihn herein.«
2.
Irgendwann im Spätherbst bog Hartmann in eine Gasse ab. Vor einem schiefen Fachwerkhaus stand ein Badergeselle und setzte einem dicken Mann Blutegel auf die Oberschenkel. Daneben haute der Lehrling einen Klöppel gegen eine Bleikanne und rief: »Das Wasser ist heiß! Kommt herbei, Leute... Das Wasser ist heiß!«
Hartmann folgte dem Aufruf und betrat das Badehaus. Sogleich begab er sich in die Kleiderkammer, wo er Beinlinge und Tunika ablegte. Nackt ging er in die Badestube. Die Luft roch stark nach Minze und erfrischte die Atemwege. Einige Ölfunzeln schaukelten hin und her und spendeten ein unruhiges Licht. Mehrere Gäste saßen in Bottichen und ließen sich von den Mägden die Schultern massieren, die Haare waschen und Getränke servieren. Die Knechte rannten umher und übernahmen das Schröpfen, Zähneziehen und
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