Der Minnesaenger
passende Kraut nicht zur Hand habe.«
»Auf dem Markt erzählen die Händler, dass sie giftig wäre.«
»Deshalb dürft Ihr das Gebräu immer nur als Kaltauszug ansetzen. In frischem Brunnenwasser lösen sich die gefährlichen Stoffe nicht auf...«
Die Hebamme erwies sich als kundige Lehrerin. Agnes
prägte sich das Aussehen und die Eigenheiten der Pflanzen ein: Das Gartenbingelkraut durfte nur getrocknet verwendet werden und half gegen Husten. Die Blutwurz, eine mittelgroße, verästelte Pflanze mit gelben Blüten, linderte Entzündungen im Mund- und Rachenraum und stillte Blutungen. Die Wurzeln der weißen Lichtnelke fanden sich vorwiegend an Ackerrändern. Den ausgepressten Saft rieb man auf Hautausschläge und Flechten.
Agnes dankte dem Allmächtigen, dass ihr Denken endlich fruchtbare Wege beschritt, und ließ sich immer neue Fragen einfallen. Ihr Wissensdurst kannte keine Grenzen. Erst als die Sonne versank, nahm sie der Hebamme das Versprechen ab, morgen auf die Adlerburg zu kommen, um den Unterricht fortzusetzen. Agnes verabschiedete sich und begab sich auf den Heimweg. Zügig schritt sie über Steine, Moos und Wurzeln. Natürlich wusste sie, dass man nach Einbruch der Dunkelheit den Wald möglichst meiden sollte, aber die Lektionen hatten sie so beansprucht, dass sie die Gefahren vergessen hatte. Neben einer gespaltenen Eiche wuchsen zahlreiche Pilze, die im Zwielicht silbergrau schimmerten. Ein schwarzes Bodenloch führte in das Innere eines Dachsbaus.
Da ertönte ein Knurren.
Agnes tastete die Umgebung mit den Augen ab. Die hellen Stämme eines Birkenhains hoben sich aus der Dämmerung, gleich daneben zeichnete sich die runde Silhouette eines Busches ab und links davon, drei Ellen über dem Grund, blitzten rote Augen. Agnes zwang sich dazu, ruhig und gleichmäßig weiterzugehen. Wenn sie Furcht zeigte und Hals über Kopf flüchtete, verhielt sie sich wie ein Beutetier. Sie richtete den Blick geradeaus, bekreuzigte
sich und sprach mit fester Stimme: »Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. DeinWille geschehe wie im Himmel so auf Erden...« Im Umhängebeutel tastete ihre Hand nach dem Dolch.
Früher konnten weder die Gefahren der Natur noch die Anfeindungen der Hörigen sie aus der Fassung bringen. Vor nichts und niemandem hatte sie Angst, denn sie wusste nur zu gut, dass es nur eines Wortes von ihr bedurfte, damit Dankwart sich drohend neben ihr aufbaute. Sein Mut färbte in all den Jahren auf sie ab und verlieh ihr auch in brenzligen Situationen Kaltblütigkeit.
Alles hatte sich verändert.
Als das Knurren lauter wurde und es im Unterholz knackte, verlor Agnes die Nerven. Keuchend sprang sie über morsche Äste, watete durch einen Bach und gelangte schließlich zu der steilen Anhöhe. Hastig zerrte sie an Gestrüpp, Gräsern und vorstehenden Wurzeln und zog sich hoch. Schroffe Felsen ragten über ihr empor. Gelockerte Lehmbrocken und Steine rollten in die Tiefe. Als sie endlich den Pfad erreichte, richtete sie sich auf und blickte den Hang hinunter. Das Tier war ihr nicht gefolgt, aber lauerte möglicherweise noch irgendwo. Erst im Schutz des Palisadenwalls durfte sie sich sicher fühlen.
Agnes war so sehr damit beschäftigt, auf Geräusche und plötzliche Bewegungen zu achten, dass sie erst wenige Pferdelängen vor dem geschlossenenTor erkannte, dass etwas auf der Erde lag. Verdutzt blieb sie stehen. Das war weder ein Wolf noch ein Bär. Angestrengt suchte sie nach einer Erklärung und langsam glomm Hoffnung in ihr auf. Vielleicht ..., dachte sie. Zuerst näherte sie sich zaghaft, Schritt für Schritt, dann stürmte sie los und fiel auf die
Knie. Sie packte die Gestalt an den Schultern und drehte sie auf den Rücken.
Es handelte sich um einen Mann, der bis auf ein zerrissenes Leibchen völlig nackt war. An seinen knochigen Beinen klebte geronnenes Blut. Das Gesicht war voller roter, violetter und blauer Flecken. Es dauerte eine Weile, bis Agnes ihren Ehemann erkannte. Entsetzt schlug sie die Hände vor den Mund. »Oh Gott! Was haben sie dir angetan? Was haben sie dir nur angetan?« Sie umarmte Dankwart und hob seinen Kopf auf ihren Schoß. Zärtlich schmiegte sie ihre Stirn an seine kalte Wange und wiegte ihn hin und her. »Ich hab dich so vermisst, so unfassbar vermisst! Endlich bist du wieder da!«Warum reagierte er nicht?Warum hing er so schlaff in ihren Armen und gab kein Lebenszeichen von sich? Mit zitternden Fingern tastete Agnes nach seinem Hals. Der Puls war
Weitere Kostenlose Bücher