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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
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Herzog ziehst, versündigst du dich und Gott muss dich bestrafen. Jäh drehte sich das Innere seines Magens um. Saure Flüssigkeit füllte seinen Mund. »Ist der Herzog davongekommen?«

    »Es wäre besser für uns«, erwiderte Werner.
    Auf allen vieren kroch Dankwart vor und erbrach sich in die Bodenstreu. Kaum jemand nahm Notiz davon. Der Gestank war sowieso unerträglich.
    Werner scharrte etwas Stroh über das Erbrochene, griff Dankwart unter die Achseln und schleppte ihn zurück. »Ruh dich aus! Wir werden unsere Kräfte noch brauchen!«
    Dankwart bettete den Hinterkopf auf das Stroh und starrte in das dunkle Gewölbe. In den vergangenen Wochen hatte er so viel Herzenskraft aufgewendet, um den Widerreden seines Weibes standzuhalten, um seinen Ahnen keine Schande zu bereiten und um dem feigen Geschwätz der anderen Krieger entgegenzuwirken. Und wofür? Um anderen Kriegern das Schwert in die Eingeweide zu stechen, um sich in ihrem Blut zu suhlen und am Ende in einer Folterkammer zu verrecken! Hatte seine Ehefrau am Ende doch Recht gehabt? Hatte er ihr gemeinsames Leben, das so reich an reinen und erbaulichen Momenten gewesen war, leichtfertig aufs Spiel gesetzt?
    Dankwart konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, was richtig und was falsch war, aber eines wusste er mit Sicherheit: Alle Schmerzen würde er aushalten, alle vorstellbaren und unvorstellbaren Grausamkeiten über sich ergehen lassen, nur um nach Aue zurückzukehren.

4.
    Agnes drückte die Äste eines Stachelbeerstrauches zur Seite und trat auf eine Waldlichtung. Es war November und schon kalt. Zwei äsende Rehe sahen kurz auf und suchten mit großen Sprüngen das Weite. Kahle Äpfel-, Birnenund
Pflaumenbäume standen neben einer Holzhütte. Das Dach war mit Grassoden eingedeckt worden. Agnes ging über die freie Fläche und schlug mit der flachen Hand gegen die Tür. Als sie keine Antwort erhielt, betrat sie den Wohnraum.
    »Herrin!«, rief die Hebamme erschrocken. »Ihr seid es!« Die alte Frau stand mit einer Kelle über einem Kessel mit blubberndem Brei, der einen beißenden Geruch verströmte. »Haben die Zwillinge Ohrensausen? Oder ist etwas mit Eurem Ehemann? Ist er endlich heimgekehrt?«
    Bei der Erwähnung Dankwarts musste Agnes schlucken. Seit der Tübinger Fehde fehlte jedes Lebenszeichen von ihm. Sie wusste nicht, ob er gefallen war, ob er mit einer schwärenden Wunde irgendwo siechte oder ob er im Tübinger Kerker langsam zugrunde ging. Die Berichte von Leutfried und anderen Zähringern widersprachen einander so stark, dass sie immer neue Fragen aufwarfen, anstatt sein Schicksal zu klären. »Ich bin gekommen, um dir einen Handel vorzuschlagen. Du bringst mir alles bei, was du über Heilkräuter weißt, und ich entlohne dich dafür.«
    »Herrin, ich weiß nicht, ob das eine gute...«
    »Ich will dir die Bauern nicht abspenstig machen. Sie sollen dich weiterhin um Rat fragen und dich für deine Medizin bezahlen. Ich brauche nur etwas, um meinen Geist...« Agnes unterbrach sich. Niemand durfte erfahren, dass die quälende Ungewissheit ihr langsam den Verstand raubte.
    »Ihr wisst ja«, sagte die Hebamme, »dass ich sehr beschäftigt bin.«
    »Natürlich«, erwiderte Agnes. Weil ihr die Ruhe zu Verhandlungen fehlte, lenkte sie schnell in die Forderungen
der alten Frau ein. Das Herdfeuer spendete nur unruhiges Licht, deshalb setzten sie sich auf eine Strohmatte ins Gras. Am Himmel zogen stahlgraue, dräuende Wolken vorüber. Böen rüttelten an den Bäumen. Irgendwo hackte ein Specht in einen Stamm. Die Hebamme griff in den Weidenkorb und zog einen Zweig mit hellgrünen, länglichen und nach innen gebogenen Blättern heraus.
    »Diese Pflanze hab ich erst gestern geschnitten. Ihr wisst sicher, wie sie genannt wird.«
    »Das ist eine Mistel.«
    Die Hebamme lächelte wohlwollend und zeigte ihren zahnlosen Oberkiefer. »Man nennt sie auch Affalter, Drudenfuß, Geißkraut oder Hexenbesen. Die Mistel ist eine wundersame Pflanze, die erst in den Wintermonaten sichtbar wird, wenn die Bäume ihre Blätter verlieren. Ihr findet sie vorwiegend auf Tannen, Pappeln und Robinien, manchmal auch auf Ebereschen, Kiefern und Weiden. Ihr müsst darauf achten, dass sie nicht auf die Muttererde fällt, sonst büßt sie ihre Heilkraft ein.«
    »Welche Wirkung hat sie?«
    »Ihr könnt sie getrost gegen jedes Gebrechen einsetzen. Ich hab sie schon bei Weißfluss, Verstopfungen, Fieber und Gelenkentzündungen verabreicht. Eigentlich benutze ich sie immer, wenn ich das

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