Der Minnesaenger
wurden jedoch aus den Armen ihrer Familie gerissen und mit dem Umgang und der Lazarusklapper gebrandmarkt. Hinzu kam, dass die einfachen Leute glaubten, dass die Krankheit durch Geschlechtsverkehr wider die biblischen Gebote übertragen wurde. Daher galten die Ausgestoßenen als triebhaft, verbrecherisch, abartig, verschlagen und gemeingefährlich.
Der Bader blickte immer wieder zu seiner Familie, den Verwandten und Freunden hinüber, die mittlerweile benachrichtigt worden waren und sich eingefunden hatten, um ihm das letzte Geleit zu geben. In seinem Antlitz drückte sich die Furcht aus, dass sie etwas Schlechtes über ihn denken könnten. »Ich schwöre es - ich hatte nie Umgang mit Tieren oder Kindern. Das müsst ihr mir glauben.«
»Ich weiß es«, rief seine Ehefrau und brach in Tränen aus. Sie breitete die Arme aus und stürzte ihm entgegen. Ihre Schwester und ihr Schwager hielten sie zurück.
Neben der kleinen Gruppe stand ein großer, sehniger Mann, der in Lumpen gehüllt war. Er schwankte leicht und schien niemanden wahrzunehmen. Quer über seine Brust spannte sich ein Lederriemen. Sein hellblondes Haar stand strähnig vom Kopf ab und...
Vor Schreck, Llberraschung und Freude schlug Judith die Hand vor den Mund. Erst auf den vierten Blick hatte sie Hartmann erkannt. Sie hatte sich immer vor einer zufälligen Begegnung gefürchtet, gleichzeitig eine solche aber herbeigesehnt. Ihr Herz klopfte immer wilder, als sie den Daumen unter den Riemen ihrer Kräutertasche klemmte und einfach zu ihm hinüberging. »Ich grüße dich, Hartmann!«
Mehrmals kniff er die Augen zusammen, so als müsste er sie auf eine größere Sehschärfe einstellen, dann blickte er sie entgeistert an und sagte: »Du?«
Judith sah sich nach allen Seiten um. Später würden sie noch genügend Zeit haben, um über tausend Dinge zu sprechen; jetzt verhielten sie sich am besten so unauff’ällig wie möglich. Angestrengt überlegte sie, was sie sagen sollte. Schließlich plapperte sie einfach drauflos: »Kennst du den Bader näher? Ich gehöre nämlich dem Lepraausschuss an und begleite die Menschen, die aufgrund meiner Diagnose ausgestoßen werden. Das ist das Mindeste, was ich noch für sie tun kann.«
»Ja!« Er leckte sich über die blassen, aufgesprungenen Lippen. Offenbar hatte er begriffen, warum sie von ihrer Tätigkeit angefangen hatte. »Ich habe bei dem Bader einmal die Woche auf der Harfe gespielt. Er war immer großzügig zu mir, und es tut mir leid, dass es ihn erwischt hat.«
Das Melatenhaus befand sich vor den Toren der Stadt, auf der anderen Seite der Dreisam. Der Ausgestoßene ging in Richtung Martinstor voraus und schwang die Lazarusklapper. Die Verwandten und Freunde folgten ihm in einem angemessenen Abstand und stimmten ein schrilles Wehklagen an.
»Komm mit!«, sagte Judith. »Lass uns dem Zug folgen.«
Während sie neben Hartmann die Gasse hinunterging, blickte sie immer wieder zu ihm hinüber. Sie kannte alle Geschichten, die über ihn kursierten. Es hieß, dass der Dichter des Erec die Gunst des Herzogs verspielt hätte und der Trunksucht verfallen wäre. Für einen Krug Beerenwein würde er auf jeder Hochzeit und Gesellenfeier auftreten. Schon häufig hätte man ihn besinnungslos am
Ufer der Dreisam gefunden. Die Gerüchte hatten sie sehr traurig gestimmt und oftmals hatte sie sich gefragt, was ihn so aus der Bahn geworfen haben mochte. Jetzt drängte sich ihr die Antwort geradezu auf. Obwohl er körperlich anwesend war, verriet sein versunkener Blick, wie weit er sich von den Menschen entfernt hatte. Zwischen ihm und allen anderen klaffte ein Graben, den er nicht mehr überwinden konnte. Nur zu ihr hatte er sofort Zutrauen gefasst. Diese Erkenntnis bestärkte sie. Noch einmal wollte sie nicht so viele Jahre verstreichen lassen. Während sie die Unterhaltung irgendwie am Laufen hielt, dachte sie darüber nach, wie sie sich treffen könnten, ohne Aufsehen zu erregen. Sie wurde immer nervöser, als sie merkte, wie eine Idee konkrete Formen annahm. »Die Leute in der Stadt erzählen sich, dass du überall auftrittst. Bei der Grundsteinlegung eines Hauses, bei der Geburt eines Kindes, bei einer...«
»Ich schäme mich nicht«, sagte Hartmann. »Solange meine Musik den Menschen Freude bereitet, ist sie ein Segen.«
»Nein, nein. Du verstehst mich falsch. Im Spital ist eine ganz liebe alte Frau ans Bett gefesselt. Sie fühlt sich so nutzlos und will niemandem Scherereien bereiten. So macht sie den ganzen Tag
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