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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
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Zustand verschlechterte sich so rapide, dass sie ihren eigenen Ermunterungen nicht traute. Ihre Augen schwollen an und schmerzten vom Tageslicht. Jeder Schritt kostete sie unendliche Mühsal und mehrmals widerstand sie der Versuchung, sich einfach hinzulegen und für einen Moment zu dösen.
    Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit endlich ankam, streckte sie die Hand aus, um die Tür aufzudrücken. Zuerst dachte sie, dass sie nicht genügend Kraft aufgewendet hatte, aber nach dem zweiten und dritten Versuch dämmerte ihr allmählich, dass der Eingang verrammelt war. Als sie einige Schritte zurücktrat, fiel ihr auf, dass auch die Fensterläden verschlossen waren. DasTurmhaus wirkte völlig verlassen.
    »Lass mich ein! Ich weiß genau, dass du da bist«, wollte Judith rufen, brachte aber nur ein Krächzen zustande. Sie geriet ins Straucheln und suchte nach ihrem Gleichgewicht. Als sie den Kopf wieder hob, fand sie sich auf der
Marktstraße wieder. Sie hatte keine Ahnung, wie sie dorthin gekommen war. Um sie herum herrschte hektisches und verzweifeltes Treiben. Die Kräuterfrauen liefen mit Tragekörben vorbei, um möglichst vielen Kranken beizustehen. Mütter hangelten sich an den Hauswänden entlang, als wären sie vom Beerenwein berauscht, und schrieen den Schmerz über den Verlust ihrer Kinder heraus. Judith beobachtete das alles, als ob die Welt eine Schräglage eingenommen hätte. Sie wollte den Kopf drehen, damit alles wieder am rechten Platz war, und wurde von einem heftigen Schwindel erfasst. Verzweifelt ruderte sie mit den Armen und schlug der Länge nach hin...

2.
    Mehrere Tage später brach langsam die Dunkelheit über Aue herein. Agnes saß mit ihrem älteren Sohn im Wohnraum und starrte vor sich hin. Sie spürte weder die Wärme des Ofens noch den leichten Luftzug. Sie fühlte nichts außer einer großen Leere.
    »Warum hat Gott sie nur zu sich genommen?«, fragte Heinrich. »Ich verstehe das nicht. Sie haben niemals jemandem auch nur ein Haar gekrümmt.«
    Agnes sah ihren Sohn an. Es fiel ihr genauso schwer, die Geschehnisse zu akzeptieren. In ihrem Kopf hallten immer noch die Kinderstimmen wider, welche die Adlerburg so viele Jahre mit Leben und Fröhlichkeit erfüllt hatten. Manchmal meinte sie sogar, dass ihre Enkelinnen nur draußen spielten und jeden Moment zum Abendbrot hereinstürmen würden, aber das konnte natürlich nicht sein.
    Im Morgengrauen hatten sie Heinrichs jüngste Tochter,
die fünfjährige Lina, neben den beiden Schwestern und der Mutter Beatrix begraben. Das Mädchen hatte mit ihrem hellen Haar nicht nur wie ihr Großvater Dankwart ausgesehen, sondern hatte auch die gleiche Zähigkeit gezeigt. Beinahe fünf Tage hatte sich ihr kleiner, magerer Leib gegen den Tod gestemmt, aber am Ende hatte das Hustenfieber gesiegt.
    »Vielleicht hatte der Allmächtige sie so lieb, dass er sie rasch bei sich haben wollte«, sagte Agnes.
    »Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Zu Lebzeiten werden wir es nicht mehr erfahren. Deshalb darf ich jetzt nicht zögern. Ich muss etwas unternehmen, um Gnade für sie zu erlangen. An nichts soll es ihnen im himmlischen Jerusalem mangeln. Was meinst du - welches Opfer verlangt der Herr?«
    »Ich weiß es nicht! Ich weiß es wirklich nicht.«
    »Pilgerstätten gibt es zahllose auf der Welt. Trier, Einsiedeln, Lucca, Siena, Assisi, Santiago de Compostela, Rom und Jerusalem.«
    »Willst du wirklich so weit fort? Rom soll ganz verfallen sein! Und in Jerusalem wüten die Sarazenen. Es reicht doch, dass Hartmann Gefangenschaft und Tod drohen.«
    »Nein, nein. Du verstehst das nicht. Bei einem solchen Unternehmen sind nur zwei Fragen entscheidend: Welches Ziel ist der Sache angemessen? Und welche Pilgerstätte kann erreicht werden? Wenn ich vorher umkomme, ist niemandem gedient. Verdammt nochmal - warum nur?« Er raufte sich so heftig das Haar, dass mehrere Strähnen zwischen den Fingern hängen blieben. Plötzlich riss er den Kopf hoch und sagte: »Dann also Santiago de Compostela!«

    »Wenn du diese Reise unbedingt unternehmen musst, werde ich dich nicht aufhalten. Ich möchte dich nur bitten, nichts zu überstürzen. Der Weg ist lang und überall lauern Gefahren. Soweit ich gehört habe, sollen einige Pilgerführer die Wallfahrer berufsmäßig ausrauben und... Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich dich auch noch verlieren würde. Versprich mir, dass du dich gut vorbereitest. Du musst dir den Weg genau beschreiben lassen. Ein paar Worte in der fremden Sprache

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