Der Minnesaenger
zurückzugreifen und sich den Bürgern als Menschenfreund in Erinnerung zu rufen.
Mitte Dezember entspannte sich die Lage endlich. Am vierten Advent baute August einen Stand mit heißem Wein, Suppe und Brotkuchen vor dem Turmhaus auf. Die Temperaturen lagen unter dem Gefrierpunkt und die quellenden, grauen Wolken hingen so tief über den Dächern, dass jederzeit die ersten Schneeflocken fallen konnten. Aus dem nahe liegenden Waisenhaus hatte er einige Kinder geholt, die Weihnachtslieder singen sollten. Als die Frühmesse beendet war und sich das schwere Holzportal des Münsters öffnete, gab August das vereinbarte Zeichen.
Die Gottesdienstteilnehmer vernahmen den rührenden Gesang und blickten herüber. August winkte ihnen einladend zu und verbeugte sich mehrmals. Zunächst kamen nur wenige Menschen herüber, dann gesellten sich immer mehr dazu, schließlich versammelte sich eine ordentliche Schar vor dem Stand. August kletterte auf ein Holzgestell, so dass er alle um zwei Köpfe überragte, und rief:
»Liebe Freunde, Nachbarn und Mitbürger. Nun ist die Zeit gekommen, um den Blick nach vorne zu richten. Während Ihr tapfer gegen das spanische Hustenfieber gekämpft habt, bin ich durch das Schwabenland gezogen, um Nahrungsmittel zu beschaffen. In dieser schweren Zeit müssen wir eng zusammenstehen. Wir müssen denjenigen die Hand reichen, die unsere Hilfe am nötigsten brauchen. Obwohl wir alle kaum Vorräte haben, wollen wir das wenige teilen, damit das Leben weitergehen kann.« Mit einer großen Geste wies August auf die zahllosen ausgezehrten Gestalten,
die sich über die dargebotenen Speisen hermachten. »Heute könnt Ihr sehen, wie wichtig es ist, Menschen in Not zu helfen. Heute erfahrt Ihr am eigenen Leib, dass es ein großes Glück ist, mildtätige Freunde zu haben, die sich um EuerWohlergehen sorgen. Jedermann soll wissen, dass er nicht alleine dasteht. Vergesst niemals, dass sich erst in einer Notsituation zeigt, wer Eure wahren Freunde sind. Und nun esst Euch erst mal satt. Es ist genug für alle da.«
August kletterte von dem Holzgestell und schob sich durch die Menge. Zahlreiche Menschen sprachen Segenswünsche gegen ihn aus, knieten vor ihm nieder und küssten seine Hand. Für jeden fand er ein paar aufmunternde Worte, sprach von einer höheren Gerechtigkeit und konnte es kaum erwarten, bis er sich wieder wichtigeren Dingen zuwenden konnte.
»Das hast du gut gemacht«, sagte jemand.
August drehte sich um und wollte schon eine der üblichen Floskeln loslassen, als er erkannte, dass der einzige Mann in Freiburg vor ihm stand, der ihm das Wasser reichen konnte. Als Zoll- und Münzmeister hatte Gunther einen ungeheuren Reichtum angesammelt. Er war fünfzig Jahre alt und hatte ein Gesicht, in dem kein Merkmal besonders hervorstach. Das graue, mittellange Haar, die blassen Augen in einem bleichen Gesicht und die Statur, die weder groß noch klein war, verschwammen zu einer nebelhaften Erscheinung, die kaum in Erinnerung blieb. »Wie gut, dich unter den Lebenden zu sehen«, sagte August.
»Meine Tochter und ich waren auf Reisen, als die Seuche ausbrach«, sagte Gunther. »Du würdest nicht glauben, wie schwer es ist, einen angemessenen Ehemann zu finden. Es ist wirklich schade, dass du schon vergeben bist.«
»Nun ja«, sagte August und blickte auf das Mädchen, das vollkommen unbeteiligt neben ihrem Vater stand und ihren Blick schweifen ließ, ohne bei etwas oder jemandem länger zu verweilen. Einige Haarsträhnen schauten unter dem Kopftuch hervor; es war unmöglich, die genaue Farbe zu bestimmen, die irgendwo zwischen blond und braun anzusiedeln war.
Eine Weile unterhielt August sich noch mit Gunther und verabschiedete sich dann. Er sprach noch mit anderen Bürgern und gab schließlich das Zeichen zum Abbau des Standes.
Gegen Mittag fand er etwas Zeit, um sich in den Empfangsraum zurückzuziehen. Während er in das Ofenfeuer starrte, erinnerte er sich an das Gespräch mit dem Münzmeister. Wie Recht Gunther doch hat, dachte er. Wie sehr sich alles zum Besseren ändern würde, wenn ich seine Tochter zur Ehefrau nehmen würde! Ich wäre sein legitimer Nachfolger im Amt und bekäme eine Frau, die zu mir passen würde. Soweit August in Erfahrung gebracht hatte, erholte sich Judith auf der Adlerburg von der Krankheit. Es war wirklich zu schade, dass sie nicht gestorben war. Dann wäre er schon jetzt frei und könnte um Gunthers Tochter werben. Was nicht ist, kann ja noch werden , dachte er. Vielleicht
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