Der Minnesaenger
läutete die Totenglocke, damit die Lebenden von den Verstorbenen Abschied nehmen und sie vor die Haustür legen konnten. Da ertönte der dumpfe Glockenschlag des Münsters. In dieser Frühe konnte das nur bedeuten, dass ein geistlicher Würdenträger, ein großzügiger Stifter oder ein hoher Bürger gestorben war. Vor niemandem machte das spanische Hustenfieber Halt. Sosehr sich die Menschen im Leben auch unterscheiden , dachte Agnes, im Tod sind sie alle gleich. Als sie in eine Gasse abbiegen wollte, hielt sie der Kirchdiener zurück.
»Nicht da entlang, wir müssen noch ein Stück weiter.«
»Wieso?«, fragte Agnes. »Das Turmhaus liegt da.«
»Judith ist in der Herberge Zum geilen Mönch. «
»In dieser Absteige?«
»Der Wirt war der Einzige, der sie aufnehmen wollte. Und dort hat sie mehr Platz als im Spital.«
»Warum ist sie nicht bei ihrem Ehemann?«
»Anscheinend ist August nicht in der Stadt. Das Turmhaus ist so verrammelt, dass sich niemand Zutritt verschaffen kann.«
Wahrscheinlich hält sich der Marktgeschworene nur versteckt, um sich nicht mit der Krankheit anzustecken, dachte Agnes, aber sie behielt ihren Verdacht für sich. Seitdem sie wusste, dass er Dankwart auf dem Gewissen hatte, wartete sie auf eine Gelegenheit, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Plötzlich hatte sie eine Idee. Wenn sich ihr Sohn Heinrich
tatsächlich auf Pilgerreise begab, würde sie den Marktgeschworenen zur Rechenschaft ziehen können. Im Gegensatz zu Heinrich brauchte sie sich um Hartmann nicht zu sorgen. Ihr jüngerer Sohn war ein ausgebildeter Schwertkämpfer. Ihn würde der gemeine Mörder nicht so leicht zu einem Gotteskampf herausfordern.
Die Herberge Zum geilen Mönch befand sich direkt am Palisadenwall und bestand aus einem einzigen Raum. In der Mitte führte ein Gang bis zur Hintertür. Links und rechts waren die Schlafabteile durch Tücher getrennt. Ein abgestandener Geruch hing in der Luft, aber der Lehmboden war sauber.
»Hier ist es«, sagte der Wirt und schlug den Vorhang zurück.
Agnes sah mit einem Blick, dass Judith völlig ausgetrocknet war. Ihre Lippen waren blass und spröde. »Hast du ihr nichts zu trinken gegeben? Sie muss doch fürchterlich geschwitzt haben.«
»Niemand hat mich dafür bezahlt«, sagte der Wirt.
Agnes geriet außer sich vor Zorn. »Hier liegt eine Frau, die seit vielen Jahren Bedürftigen hilft, ohne auch nur eine Kupfermünze zu nehmen. Und du kannst ihr nicht mal einen Becher mit Wasser bringen!«
»Ich leite eine Herberge«, sagte der Mann. »Ich bin kein Krankenpfleger.«
Agnes unterdrückte ihren Zorn. Mit solchen Gefühlsausbrüchen vergeudete sie nur Zeit. »Hier hast du eine Münze. Bringe mir einen Eimer mit frischem Brunnenwasser und so viele Leinentücher, wie du auftreiben kannst. Außerdem brauche ich eine Feuerstelle, wo ich einen Trank aufkochen kann.«
Nachdem der Wirt gegangen war, setzte sich Agnes auf den Bettrand. Mit dem Handrücken befühlte sie die Stirn der Kranken. Das Fieber war besorgniserregend hoch, sie mussten die Temperatur so schnell wie möglich senken.
Judith warf den Kopf zur Seite und stammelte mit geschlossenen Augen: »Es... tut mir leid... Mutter. Ich wollte... dich nicht... erzürnen, aber du... du bist... musst doch verstehen, dass ich die Hühner... Nein, ich... habe sie nicht laufen lassen und...«
Agnes strich der Kranken beruhigend über den Arm und sagte: »Gräm dich nicht. Deine Mutter ist schon vor vielen Jahren gestorben, und ich werde dafür sorgen, dass du ihr nicht so bald über den Weg läufst.«
4.
August beobachtete das Geschehen aus seinem Versteck im obersten Stockwerk des Turmhauses und ließ es sich in der Gesellschaft des Serviermädchens und zahlreicher Köstlichkeiten gutgehen. Neben den sinnlichen Genüssen blieb ihm auch genügend Zeit, um sich zu überlegen, wie es nach der Seuche weitergehen sollte.
Jedes Jahr wurde er als einer der vierundzwanzig Marktgeschworenen in seinem Amt bestätigt. In den Sitzungen verhandelten sie meistens Fälle nach dem Kölner Kaufmannsrecht. Die Betrügereien, Spitzfindigkeiten und Rechthabereien langweilten ihn mittlerweile zu Tode. Insgeheim vertrat er die Ansicht, dass sich unbedeutende Männer mit unbedeutenden Problemen befassen sollten. Eine Persönlichkeit wie er sollte sich anspruchsvollerenAufgaben zuwenden. Wie diese im Einzelnen aussehen
sollten, wusste er noch nicht, aber um seine Ausnahmestellung zu unterstreichen, entschloss er sich, auf altbewährte Mittel
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