Der Minnesaenger
Lothar und die zwei Kirchdiener versorgten die Fiebernden, so gut sie konnten. Sie verteilten die Liegeplätze, verabreichten Arzneien, verteilten Hühnerbrühe und erneuerten die Wadenwickel. Als sie eine kleine Pause einlegten, trafen schon die nächsten Patienten ein - und das war erst der Anfang.
Schon am dritten Tag herrschten chaotische Zustände. Als ein Schafhirte um medizinischen Beistand bat, fand er weder in der St. Peterkirche noch im Pfarrhaus oder im Spital einen Platz, wo er sich ausstrecken konnte. Die
blassen, eingefallenen Gesichter und das allgegenwärtige Schniefen ließen den Mann gegenüber Vater Lothar sagen: »Da weiß ich ja schon, was auf mich zukommt. Da kann ich mich auch gleich auf den Friedhof legen.« Obwohl die Bemerkung nicht ernst gemeint war, beschrieb sie das Schicksal des Schafhirten treffend.
Judith schlief so gut wie gar nicht mehr. Als sie in der vierten Nacht vor Übermüdung kaum noch gehen konnte, legte sie sich im gelben Schein der Ölfunzel zu Gundula und wischte ihr mit einem feuchten Lappen über die glühende Stirn. Anfangs hustete die alte Frau noch rostfarbenen Schleim ab, aber ihre Kräfte schwanden zusehends. Ihr Atem wurde immer schneller und flacher; Lippen und Fingernägel verfärbten sich bläulich. Trotzdem kam sie noch einmal zu Bewusstsein.
»Hast du... etwas... von... Hartmann gehört?«, fragte die alte Frau.
»Sorg dich nicht«, erwiderte Judith. »Er weiß genau, was er tut. Du musst jetzt an dich denken. Du musst zusehen, dass du wieder gesund wirst.«
»Er kommt... zurück. Ich... hab... von ihm geträumt. Ihr wart so ein... schönes Paar! Es... ist nur... schade, dass ich... euch beide... nicht mehr erlebe.«
Judith liefen die Tränen über die Wangen. Sie wusste nicht, ob sie aus purer Erschöpfung, aus Angst um Hartmann oder aus Rührung über die Worte der alten Gundula weinte. In letzter Zeit kamen ihr so oft und so lange die Tränen, dass es auch keinen Unterschied mehr machte. Behutsam legte sie ihre Stirn an die Schläfe der alten Frau und legte ihr die heilende Hand auf die Rippen, um ihr das Atmen zu erleichtern.
»Ich bleibe bei dir«, sagte Judith. »Lass uns jetzt ein wenig schlafen. Morgen sieht die Welt schon anders aus.«
»Das... glaube... ich auch«, sagte Gundula.
Als Judith in der Frühe erwachte, hatte sich die Seele der alten Frau davongestohlen. Ihre Gesichtzüge waren entspannt und deuteten daraufhin, dass sich der Übergang ohne innere Widerstände vollzogen hatte. Mit bebenden Lippen schloss Judith ihr die Augen und küsste zum Abschied ihre kalte Stirn.
»Da bist du ja«, rief Vater Lothar. Seine Stimme klang dumpf, weil er sich ein Stück Linnen vor Nase und Mund gebunden hatte. Wie viele andere heilkundige Männer und Frauen glaubte er, dass Krankheiten durch das Einatmen von schlechten Körperausdünstungen übertragen wurden. »Wir haben dich überall gesucht. Warum liegst du bei den Siechen und warum trägst du keinen Schutz?«
»Ich wollte bei Gundula sein«, sagte Judith und tastete ihren Mund ab. Sie musste das Stück Linnen im Schlaf abgestreift haben. Als sie den Kopf drehte, entdeckte sie es neben dem Kopf der verstorbenen Frau und band es sich wieder um.
»Du siehst blass aus«, sagte Vater Lothar, der gerade mit einem der Kirchdiener einen weiteren toten Greis aus dem Spital schleppte. »Deine Augen sind rot.«
»Das kann nicht sein!«, sagte Judith und wollte sich schwungvoll vom Bett erheben, um ihre gute Verfassung zu zeigen. Sie hatte den Fuß noch nicht aufgesetzt, da spürte sie schon, dass etwas nicht stimmte. Ihre Kniegelenke fühlten sich wackelig an. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die tropfende Nase. Ein leichter Windzug ließ sie so stark frösteln, dass ihre Zähne klapperten.
Vater Lothar beobachtete sie genau. »Am besten gehst du nach Hause und ruhst dich aus. Schaffst du den Weg alleine oder soll ich einen Kirchdiener mitschicken?«
Judith kam nicht einmal auf die Idee, dem Vorschlag des Geistlichen zu widersprechen. »Die beiden werden hier gebraucht. Bis zum Turmhaus schaffe ich es alleine.«
»Sobald ich Zeit habe, sehe ich nach dir.«
Judith nickte schwach und bahnte sich einen Weg. Obwohl sie über heilende Kräfte verfügte, war sie selber nicht vor ansteckenden Krankheiten gefeit. Auf dem Trampelpfad zur Stadt machte sie sich Mut, indem sie sich einredete, dass alles nur halb so schlimm wäre und dass sie bei ihrer Konstitution schnell gesunden würde, aber ihr
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