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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
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solltest du auch beherrschen, hörst du?«
    Heinrichs Züge wurden erschreckend weich und verletzlich. Seine Augen hingen an ihren Lippen, als hätte sie das Evangelium verkündet. »Ich verspreche es.«
    »Außerdem musst du bedenken, dass eine Pilgerfahrt sehr teuer ist. Du musst essen, Fährgelder und Stadtzölle zahlen. Du musst in Gasthäusern übernachten, wenn in den Pilgerherbergen kein Platz frei ist. Die Priester lassen sich jede Handreichung, jedes seligsprechende Wort und jedes Gebet teuer bezahlen. Jedes Häuflein Erde vom Grab des heiligen Jacobus kostet ein Vermögen.«
    »Wenn wir das Geld nicht aufbringen, dann weiß ich nicht, wie ich... dann...«
    »Wir haben mehrere Wiesen und einen Weinberg bei Uffhausen, die dein Vater als Brautgabe für deine Schwestern vorgesehen hatte. Wenn wir sie verkaufen, verfügst du über genügend Mittel, um sicher nach Santiago zu reisen. Aber du musst mir versprechen, dass du nicht aufbrichst, ehe dein Bruder zurückgekehrt ist. Wenn ich alleine auf der Adlerburg bleibe, wird jemand einen Weg finden, um uns das Lehen wegzunehmen.«
    »Ich danke dir, Mutter«, sagte Heinrich, kniete auf dem
Lehmboden nieder und bettete den Kopf in ihren Schoß. »Ich danke dir so sehr, ich danke dir, ich danke dir...«
    »Ist schon gut, mein Kind!«, sagte Agnes und strich ihm sanft durchs Haar. Leise summte sie eine Melodie, wie sie es oft getan hatte, als er noch ein Knabe war und in seinen Träumen von Waldgeistern, Schraten und Kobolden heimgesucht wurde. Sie wusste nicht, wie lange sie so dasaßen, aber das Herdfeuer verglühte schon, als es heftig gegen die Tür klopfte.
    »Wer ist da?«, rief Agnes.
    Eine Gestalt mit einer Fackel trat ein. Die flackernde Flamme tauchte das Gesicht eines Jünglings in einen gelbroten Schein. Es war einer der beiden Kirchdiener, mit denen sie schon häufig im Spital in Wiehre zu tun gehabt hatte.
    »Vater Lothar schickt mich«, sagte er. »Er lässt dir ausrichten, dass Judith schwer erkrankt ist und deine Pflege braucht.«
    »Judith hat das Hustenfieber?«
    »Ja, sie ringt mit dem Tod.«
    »Dann muss ich zu ihr.« Agnes sah ihren Sohn an. »Du hast gehört, was passiert ist. Kommst du alleine zurecht?«
    »Ich werde mir einen Pilgerstab aus Wurzelholz schnitzen und auf den Tag warten, an dem ich nach Santiago aufbrechen kann. Sorge dich nicht um mich. Judith braucht dich jetzt dringender als ich.«
    »Du bist ein guter Junge«, sagte Agnes, strich ihrem Sohn liebevoll über die Wange und wandte sich an den Kirchdiener. »Ich packe nur schnell ein paar Sachen zusammen. Dann können wir aufbrechen.«

3.
    Im Morgengrauen erreichten Agnes und der Kirchdiener das städtische Vorland. Ringsum hob sich der silbrige Nebel aus den Feldern und zog in breiten Schwaden über die Landschaft. Zuerst konnte Agnes kaum glauben, was sich ganz in der Nähe, auf einer nahe gelegenen Wiese abspielte, aber das gespenstische Treiben passte zu den schrecklichen Ereignissen, die sich in Aue zugetragen hatten. Lautlos luden zwei Gestalten in Kapuzenmänteln Leichen von einem Ochsenkarren. Dann packten sie die Toten an Händen und Füßen und warfen sie auf einen Scheiterhaufen. Die Flammen verzehrten die Körper, züngelten wild hin und her, als verlangten sie nach weiterer Nahrung, und schraubten sich weiter in die Höhe. Die schwarze Rauchsäule wurde vom Wind zum Fluss hinuntergedrückt.
    Die sterblichen Überreste dieser Menschen würden niemals in geweihter Erde liegen. Ihre Asche würde sich in alle Himmelsrichtungen verteilen, so dass die Hinterbliebenen keinen Ort haben würden, an dem sie trauern konnten. Voller Mitgefühl blieb Agnes am Wegesrand stehen und bekreuzigte sich. Sie küsste das Holzkreuz, das ihr an einer Lederschnur um den Hals hing, und murmelte: »Möge der Tod nicht euer Ende sein. Möge der Allmächtige sich eurer armen Seelen erbarmen, damit ihr im himmlischen Jerusalem wieder mit euren Lieben vereint seid.«
    Schweigend setzten sie und der Kirchdiener den Marsch fort. Als sie das Schwabentor passierten, musterten die Wachen sie verwundert. Mehrere Menschen hatten die Stadt fluchtartig verlassen, um auf dem Land auszuharren. Jedermann wusste, dass die Sterblichkeitsrate in den Städten,
wo die Bürger Tür an Tür wohnten, besonders hoch war. Die Wachen enthielten sich jedoch eines Kommentars und winkten sie nur durch.
    Die Marktstraße war menschenleer, nur ein zweiter Trupp Totengräber zog mit einem Ochsenkarren umher. Der kleinere Mann

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