Der Minnesaenger
»Mein lieber August, wir alle wissen, wie schwer es dir gefallen sein muss, am heutigen Tag hier zu erscheinen. Du hast dich selbst zum Ankläger und Verteidiger bestimmt und damit erneut bewiesen, dass du in schwierigen Situation deinen Mann stehst, aber uns ist nicht entgangen, dass diese Untat ihre Spuren hinterlassen hat. Deshalb sehen wir dein Ersuchen um Gnade als den verzweifelten Versuch eines Mannes an, sein Weib vor dem Richtschwert zu retten. Du dürftest dir darüber im Klaren sein, dass wir als Hüter des Rechts den wichtigsten Grundsatz niemals aus den Augen verlieren dürfen: Innerhalb der Mauern unserer Stadt bemisst sich die Strafe für einen Friedensbrecher weder nach seinem Stand noch nach seinen Verdiensten noch nach seinen verwandtschaftlichen Verflechtungen, sondern einzig und allein an seiner Tat. Dein Weib muss daher mit dem Tod bestraft werden.«
»Bitte nicht!«, rief August, während Judith angstvoll die Augen aufriss. Erst jetzt begriff sie vollends, worauf diese Verhandlung hinauslief.
»Bei der jetzigen Beweislage will und kann ich dir keinerlei
Hoffnungen machen«, sagte der Vogt, »aber ich möchte dich von einer schweren Bürde befreien.«
»Was meinst du?«
»Ein solcher Fall ist in der Geschichte unserer Stadt noch nicht vorgekommen. Die überführte Mörderin ist die angetraute Ehefrau eines Mitglieds des Blutgerichts. Als Vorsitzender kann ich nicht von dir verlangen, dass du über ihr zu Gericht sitzt und sie zu der angemessenen Strafe, nämlich dem Tode verurteilst. Ihr Blut würde an deinen Händen kleben und dich bis zum Ende deiner Tage verfolgen.«
»Das ist wohl wahr«, sagte August. »Dann müsst ihr das Urteil eben ohne mich fällen!«
»Das ist leider nicht möglich«, erwiderte der Vogt. »In unserem Recht steht geschrieben, dass alle Mitglieder des Blutgerichts ihre Stimme abgeben müssen, damit ein Urteil rechtskräftig wird. Möglicherweise könnten wir eine Ausnahme machen, aber es gibt noch einen anderen Grund, weshalb ich von einem Richtspruch absehen möchte. Aufgrund unserer engen freundschaftlichen Bindung besteht die Gefahr, dass wir uns von Gefühlen leiten lassen und wichtige Hinweise übersehen. Um von vornherein die Rechtssicherheit zu gewährleisten, soll die Gefangene daher der Herrenhuld übergeben werden. Das Urteil des Herzogs wird über alle Zweifel erhaben sein.«
»Aber der Herzog weilt auf Falkenjagd im Niederrheinischen«, sagte August. »Niemand, nicht einmal sein Truchsess weiß, wann er zurückkommt.«
»Umso besser«, sagte der Vogt. »Dann bleibt der Gefangenen genügend Zeit, um ihre Tat zu überdenken und sich auf das Jüngste Gericht vorzubereiten.«
3.
Durch ein schmales Gitterfenster fiel etwas Tageslicht. Die Bruchsteinquader glänzten feucht. Von der gewölbeartigen Decke hing ein Toter, der nur noch aus Haut, Knochen und Haaren bestand. Die Stadtbüttel hatten wohl vergessen, ihn von den Ketten zu nehmen.
Judith hatte sich von den Nachwirkungen des Faustschlages erholt und kämpfte gegen den Hass an, der ihre Seele vergiften wollte. Sie wusste nicht, wie viele Tage ihr noch bleiben würden, aber ihre restliche Zeit wollte sie nicht damit verbringen, an ihren Ehemann zu denken. Stattdessen fragte sie sich, welche Richtung ihr Leben wohl eingeschlagen hätte, wenn Hartmann damals rechtzeitig zum Osterfest erschienen wäre. Dieses Schicksal, eingesperrt in ein Verlies und auf die Hinrichtung wartend, wäre ihr ganz sicher erspart geblieben, andererseits hätte sie vielleicht niemals gelernt, für ihre Interessen einzutreten und ihre Ziele zu verfolgen. In den vergangenen Jahren hatte sie so vielen Menschen in ihrer Not beigestanden und ihr war so viel Dankbarkeit widerfahren, dass nicht alles umsonst gewesen sein konnte.
Ja, in ihrer Heiltätigkeit hatte sie die größtmögliche Erfüllung gefunden, nur ihre Sehnsucht nach Nähe war lange Zeit nicht gestillt worden. Sie konnte unmöglich sagen, wie lange sie noch ohne Liebe ausgehalten hätte. Möglicherweise wäre sie irgendwann zugrunde gegangen, vielleicht hätte sie auch bis zu ihrem Tod weitergemacht, weil sie nur eine ganz vage Ahnung davon hatte, wie schön es zwischen Mann und Frau sein konnte. Erst als Hartmann in Wiehre als Pfarreiknecht ausgeholfen hatte, war ihr aufgegangen,
was sie in all den Jahren so schmerzlich vermisst hatte. Ach, wie schön es doch wäre, wenn sie noch ein einziges Mal mit ihm reden könnte, um an seinen Gedanken teilzuhaben. Wie gut es
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