Der Minnesaenger
sollte ich ein wenig nachhelfen.. . Ja, im Grunde käme es nur darauf an, die Menschen nicht zu überraschen, sondern ihnen vielmehr die Möglichkeit zu geben, die bestehenden Verhältnisse umzudeuten. Die Bürger glaubten ja sowieso alles, was er ihnen vorgaukelte. In ihrer Beschränktheit waren sie so berechenbar, dass es schon langweilig war.
Im Jahre des Herrn 1191
1.
Judith erholte sich nur langsam von dem spanischen Hustenfieber und fragte sich, wie sie Agnes die aufopferungsvolle Pflege jemals vergelten sollte. Ende März verließ sie die Adlerburg und kehrte nach Freiburg zurück, um ihre Heiltätigkeit wieder aufzunehmen.
August begegnete ihr mit großer Freundlichkeit und überließ ihr völlig freie Hand. Manchmal dachte Judith sogar, dass es für Außenstehende so wirken musste, als ob sie sich gegenseitig wertschätzten und eine glückliche Ehe führten. Vielleicht hätte sie aufgrund dieses Eindrucks misstrauisch werden sollen, aber im Nachhinein war man immer klüger.
Am ersten Sonntag im Juni begab sie sich zum Spital in Wiehre, um mit Vater Lothar die kommende Woche zu besprechen. An ihrem Unterarm hing ein Weidenkorb, in den sie einen Brotkuchen mit Walnüssen und Rosinen gepackt hatte. Der Geistliche hatte schon mehrmals im Scherz geäußert, dass diese Nascherei die einzige Versuchung darstellen würde, der er nicht widerstehen könne.
Unter dem rauschenden Blätterdach ging Judith dahin und dachte an die Kreuzfahrer, die kürzlich durch Freiburg gezogen waren. Die Männer waren völlig abgerissen gewesen
und hatten den Winterkrieg um Adrianopel in düsteren Farben geschildert. Außerdem hatten sie von dem zehrenden Hunger berichtet, dem so viele Krieger zum Opfer gefallen wären. Die fürchterlichen Gemetzel bei Philomenion und Ikonion hätte niemand überlebt, ohne Schaden an Leib oder Seele zu nehmen.
Auch Hartmann hatte sicherlich schreckliche Dinge gesehen. Sie konnte nur hoffen, dass er stark genug war, um die Gräuel zu verarbeiten. Schon oft hatte sie von gestandenen Kriegern gehört, die dem Schlachtenwahn verfallen waren. Manchmal sah sie Hartmann vor sich, wie er orientierungslos durch eine orientalische Stadt irrte. Er kämpf te mit Straßenkötern um abgenagte Knochen und starrte ausdruckslos auf das azurblaue Mittelmeer. Nein, dachte sie und verscheuchte die verstörenden Bilder wieder. Wenn sie sich von ihren Ängsten hinreißen ließ, half sie niemandem. Sie durfte die Hoffnung nicht aufgeben, nur so konnte sie einen Beitrag zu seiner Heimkehr leisten.
Sie betrat das Spital und wurde im Eingang von Vater Lothar begrüßt, der sogleich das weiße Linnen anhob, um einen Blick in den Korb zu werfen.
»Ich freue mich schon den ganzen Morgen auf den Brotkuchen«, sagte der Geistliche. »Lass mich zuerst ein Stück essen, hinterher will ich dir ein Wunder zeigen.«
»Jetzt macht Ihr mich aber neugierig. Wovon redet Ihr?«
»Erst der Brotkuchen. Dann wirst du Augen machen, das verspreche ich dir.«
Die beiden setzten sich auf die Bank an der Längsseite des Pfarrhauses. Vater Lothar hatte schon Bier bereitgestellt, das bei den sommerlichen Temperaturen erfrischender war als der schwere Beerenwein. Judith breitete das
Leinentuch aus und schnitt den Brotkuchen in fingerdicke Scheiben. Sie selbst hielt sich heute zurück, weil sie unter einem Völlegefühl litt, das sich immer einstellte, wenn ihre monatliche Blutung bevorstand, aber es freute sie ungemein, dass der Geistliche so kräftig zulangte. Judith bot ihr Gesicht der Sonne dar und genoss die Wärme, bis sie sich an seine Ankündigung erinnerte. »Welche Überraschung habt Ihr gemeint?«
Vater Lothar verzehrte schon die vierte Scheibe und blickte sie nachdenklich an. »Irgendwie schmeckt der Brotkuchen anders als sonst. Hast du das Rezept verändert?«
»Das würde ich niemals wagen! Ich weiß doch, wie sehr er Euch schmeckt. Ist Euch nicht gut, Vater? Ihr seht blass aus.«
»Ich habe letzte Nacht unruhig geschlafen. Gleich... geht es mir wieder besser. Wir können... schon mal besprechen, wie wir die Lähmungserscheinungen bei dem Bauern behandeln wollen. Was schlägst du vor?«
»Ihr solltet Euch besser hinlegen.«
Überrascht wischte sich Vater Lothar den Schweiß von der Stirn und betrachtete seine glänzenden Finger. »Vielleicht... hast du Recht, vielleicht... sollte ich ein kleines Nickerchen halten.«
Als er sich stöhnend erhob, stützte Judith seinen Arm. Mit schweren Schritten schleppte er sich voran.
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