Der Minnesaenger
Plötzlich entzog er sich ihrem Griff und rollte sich auf dem Boden zusammen. Sein Atem ging in ein Hecheln über, so als würde er nicht genügend Luft bekommen. Seine Hände krallten sich in die Brust.
Alles geschah so schnell, dass Judith kaum die Zeit blieb,
um die Symptome zu deuten und entsprechend zu handeln. Als sie begriff, dass er vermutlich einen Herzanfall hatte, war es schon zu spät. Seine Hände fielen kraftlos herab; die Gesichtszüge erschlafften und über seine Augen legte sich der trübe Schleier des Todes.
»Nein!«, rief Judith und sank auf die Knie. »Das ist unmöglich! Eben wart Ihr doch noch...« Behutsam umfing sie seinen Kopf mit den Händen. »Vater, bitte kommt zu Euch! Wir brauchen Euch hier.«
Der Geistliche regte sich nicht mehr.
Natürlich wusste Judith, dass der Tod plötzlich eintreten konnte, aber ihr Mentor hatte nicht das geringste Symptom einer Herzschwäche gezeigt. Er litt weder unter Kurzatmigkeit noch unter dicken Beinen. Sie war noch nie einem Mann begegnet, der über eine so strotzende Gesundheit verfügte. Auch heute hatte er einen äußerst lebendigen Eindruck gemacht - jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, als er von dem Brotkuchen gegessen hatte.
Judith beschlich ein fürchterlicher Verdacht und sie musste an den zurückliegenden Morgen denken. Als sie zur Kochstelle gegangen war, um den Brotkuchen einzupacken, hatte August an ihm hantiert. Als sie ihn gefragt hatte, ob er eine Scheibe haben wolle, hatte er den Kopf geschüttelt und etwas hinter seinem Rücken versteckt. Vielleicht war er es, der...
Judith legte den Kopf des Geistlichen vorsichtig auf den Boden und sprang auf. Neben dem Brotkuchen lag eine Taube und zitterte am ganzen Leib. Ein letztes Mal riss sie den Schnabel auf, dann erschlafften die weißen Flügel. Der Vogel hatte vermutlich einige Krümel aufgepickt. Der Verzehr hatte die gleiche Wirkung erzielt wie bei Vater
Lothar und das ließ nur eine Schlussfolgerung zu. Der Brotkuchen war vergiftet worden - und zwar von ihrem Ehemann August.
Mittlerweile kannte sie seine verschlagene Denkweise so gut, dass sie nicht lange überlegen musste, um den Grund für den Giftanschlag herauszufinden. Er hatte nicht Vater Lothar alleine, sondern ihnen beiden gegolten. August hatte sich das Gerücht zunutze machen wollen, dass sie und der Geistliche ein geschlechtliches Verhältnis hätten. Alles hätte so ausgesehen, als wären sie gemeinsam aus dem Leben geschieden, weil ihnen keine gemeinsame Zukunft beschert wäre. August hätte die Leute nicht einmal beeinflussen müssen, früher oder später wären sie selber auf die Idee gekommen.
Der Bauernjunge mit dem amputierten Unterschenkel bog auf den Kirchplatz ein und rief ihr zu: »Sieh mal, Judith, was Vater Lothar für mich angefertigt hat!« Unter dem Kniegelenk trug er eine hölzerne Prothese, die es ihm erlaubte, sich mit Hilfe eines Wanderstabes fortzubewegen. »Ich bin fast so schnell wie früher und darf wieder nach Hause. Mein Bruder lässt mich die Schafe hüten. Ich bin Vater Lothar so dankbar.« Das war also das Wunder, das der Geistliche ihr zeigen wollte.
Ihr Mentor hatte in seinem Leben so viel Gutes bewirkt, er war so ein wertvoller Mensch gewesen und hätte es verdient gehabt, das Greisenalter zu erreichen, damit andere sich seiner annehmen könnten. Nun war er der Heimtücke ihres Ehemanns zum Opfer gefallen, eines Mannes, der nichts als eine breite Spur der Zerstörung hinter sich ließ. Nichts, aber auch rein gar nichts deutete darauf hin, dass er einesTages zur Rechenschaft gezogen werden würde.
Sollte es denn ständig so weitergehen? Jemand musste endlich etwas unternehmen! Sie musste etwas unternehmen! Sie musste für Gerechtigkeit sorgen! Judiths Verzweiflung schlug in kalte Wut um. Sie packte den Knaben bei den Schultern und sagte eindringlich:
»Hör mir zu! Dieser Brotkuchen wurde vergiftet. Niemand darf von ihm essen. Weder du noch die Patienten noch irgendwelche Tiere. Hast du das verstanden?«
Der Junge nickte ängstlich.
»Gut«, sagte Judith und zögerte nicht länger. Sie zog die Arme eng an den Körper und rannte Richtung Freiburg. Ihr Körper war noch geschwächt von dem spanischen Hustenfieber, trotzdem erreichte sie das Turmhaus in Windeseile. Sie riss die Tür auf und stürmte in die Diele. »Dieses Mal kommst du nicht davon!«, schrie sie. »Dieses Mal bist du zu weit gegangen!«
Ihr Ehemann kam ihr entgegen. »Du verdammte Metze! Warum bist du nicht tot? Warum kannst du
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