Der Minnesaenger
ich.« Ein letztes Mal strich er dem Sohn über den weißblonden Schopf, dann wandte er sich ab und ging auf die innere Klosterpforte zu.
Es ist gleichgültig, was ich ihm sage, dachte er. Der Junge wird
nicht begreifen, warum ich ihn zurücklasse. Der Hengst stand beim Gästehaus. Obwohl Dankwart müde und hungrig war, hatte er es eilig, das Kloster zu verlassen. Als zweitgeborener Sohn ist es das Beste für ihn. Das Kloster wird ihn vor Hunger und Krieg bewahren. Statt Menschen zu erschlagen und im Kerlzer gefoltert zu werden, wird er den Umgang mit dem Griffel lernen.
Der Novize öffnete das Klostertor und Dankwart gab dem Hengst die Sporen. Ein Gefühl der Erleichterung machte sich in ihm breit. Sein jüngstes Kind war versorgt. MitWeitsicht hatte er alles getan, um dem Sohn einen vielversprechenden Weg zu ebnen. Jetzt lag es an Hartmann, die Möglichkeiten zu nutzen.
Im Jahre des Herrn 1173
1.
Im Juni würde Hartmann dreizehn Jahre alt werden. Sein hellblondes Haar stand unbändig vom Kopf ab, wenn der Bruder Bader seine Scherutensilien mal wieder verlegt hatte. Seine kristallblauen Augen blickten so klar drein, als gehörten sie nicht einem Halbwüchsigen, sondern einem erfahrenen Mann.
Sieben Jahre waren seit seiner Aufnahme ins Kloster vergangen. Trotzdem hatte er noch eine ziemlich genaue Vorstellung von der zwanglosen Lebensweise in Aue. Manchmal glaubte er sogar, den Geruch von warmer Milch mit Honig wahrzunehmen. Und er konnte denTag kaum erwarten, an dem er seine Familie endlich wiedersehen würde.
Anders als die pueri oblati, die Schüler der inneren Klosterschule, die vom Tage ihrer Darbringung bis zu ihrem Tod im Kloster blieben, genossen die Zöglinge der äußeren Schule eine größere Freiheit. Die Feiertage verbrachten sie in aller Regel zu Hause.
Nur Hartmann hatte bisher stets im Kloster bleiben müssen, weil der Rat der Mönche entschieden hatte, dass er nicht Manns genug war, um sich den Gefahren eines so langen Fußmarsches auszusetzen. Zwar hatte ihn sein Schulmeister in den Ferien im Französischen unterrichtet,
aber die umfassenden Sprachkenntnisse, die er sich mittlerweile erworben hatte, waren im Vergleich zu den abenteuerlichen Schilderungen seiner Kameraden nur ein schwacher Trost.
Im vergangenen Winter hatte sich sein Körper endlich in die Höhe gestreckt. Um sein Geschlecht war krauses Haar gesprossen und an seinem Kinn hatte sich der erste Bartflaum gezeigt. Seine Stimme war unkontrollierbar geworden: Beim Gesangsunterricht hatte sie sich krächzend den hohen Tönen entzogen; bei tiefen Tönen war sie unvermittelt in die Höhe geschossen. Schnell hatte er begriffen, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis er die Eltern und Geschwister wiedersehen würde. Auf seine dringende Bitte hin hatte Jean de Reims erneut im Kapitelsaal vorgesprochen, und endlich war ihm die Heimreise gestattet worden.
Nur das stürmische Wetter hielt ihn noch zurück, ansonsten wäre er längst aufgebrochen.
Im Schullokal saß er wie jeden Tag auf einem niedrigen Schemel. Zwischen ihm und den anderen Zöglingen klaffte ein so großer Abstand, dass sie weder miteinander schwatzen noch einander berühren konnten. Obwohl das Osterfest näherrückte, trug er zwei Gewänder übereinander, um sich vor der kühlen Luft zu schützen, die durch die Bogenfenster in den Saal wehte.
»Reich das Buch weiter an Hartmann«, befahl Jean de Reims; der magister principalis der äußeren Schule thronte auf einem erhöhten Sitz. In seinen Händen hielt er eine Rute, mit der er Schüler züchtigte, die beim Lesen oder Übersetzen Fehler begingen.
Der Zögling erhob sich von seinem Schemel und übergab Hartmann das vierte Buch von Vergils Aeneis . Der Knabe fuhr mit dem Zeigefinger über das raue Pergament, bis er auf die richtige Zeile traf. Fragend blickte er seinen Schulmeister an, der ihm durch ein Nicken bedeutete, dass er beginnen sollte.
»Geh, Schwester«, übersetzte Hartmann, »und sprich demütig zu dem hochmütigen Feind: Nicht ich habe in Aulis mit den Danaern geschworen, das Trojanervolk auszurotten...«
Jean de Reims belohnte ihn für den flüssigen und fehlerfreienVortrag mit einem Nicken und deutete mit der Rute auf den Nebenmann. Hartmann stand auf und übergab das Buch. Nachdem er sich wieder gesetzt hatte, blickte er seitwärts durch die Bogenfenster in den Garten. Um den Brunnen hatten sich breite Pfützen gesammelt. Die Regenwolken hingen tief über dem Kloster. Wann ließ der Sturm
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