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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
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von der Musik in eine andere Welt entführen.
    Nach dem Abendgebet wurden die Zöglinge in die Waschstube geführt, wo sie sich um die Holzzuber versammelten. Mit hastigen Bewegungen warfen sie Wasser unter ihre Wollumhänge, tauchten den Kopf unter und benetzten ihre Achselhöhlen. Einige der Schüler wurden zum Abort geführt, bis sich alle im Dormitorium, dem Schlafraum, einfanden und unter die Decke krochen.
    Nachdem sich der Schulmeister entfernt hatte, krabbelte Hartmann auf allen vieren zu Ulrichs Lager und schlüpfte unter dessen Decke. »Hast du ein Stück Linnen? Die Wunden sondern eine wässrige Flüssigkeit ab.«
    »Gleich morgen früh besorge ich Salbe«, sagte Ulrich.
    »Gut«, erwiderte Hartmann und machte es sich auf dem Rücken bequem.
    Ulrich schmiegte sich an ihn. »Ich frage mich schon die ganze Zeit, warum Vater Jean so heftig zugeschlagen hat.«
    »Na ja, ich muss zugeben, dass ich beim Abschreiben der Heiligenvita nachlässig war. Die Zeilen vermissen die Geradlinigkeit und fallen zum Ende hin ab.« Hartmann seufzte und blickte durch die Bogenfenster in die Nacht. »Wann hört es endlich auf zu regnen?«

    »Jetzt verstehe ich«, sagte Ulrich. »Ich weiß ja, dass du nach Hause willst - alle Schüler wollen das. Trotzdem kommen sie ihren Pflichten nach.«
    »Das kannst du ja wohl nicht vergleichen. Seit sieben Jahren habe ich keine Nachricht von daheim. Ich will endlich sehen, ob es allen gutgeht. Außerdem bin ich gespannt, was sich in der Zwischenzeit zugetragen hat.«
    »Erwarte nicht zu viel! Die Menschen da draußen verstehen nichts von der Heiligen Schrift. Ihr Geist ist stumpf und dem Körper Untertan. Sie sind kaum besser als das Vieh, das unentwegt das Gras zwischen den Zähnen mahlt. Dir wird es da draußen genauso ergehen wie mir. Nach wenigen Tagen wirst du dich nach Sankt Georgen zurücksehnen.«
    »Da täuschst du dich«, sagte Hartmann. »Du wirst eines Tages ein Mann der Kirche sein - daran besteht für mich kein Zweifel. Aber was aus mir werden soll - das steht noch in den Sternen.«

2.
    In Aue rang der freie Bauer, August der Ältere, mit dem Tod. In Fieberkrämpfen bäumte sich sein Leib auf der Matratze auf. Mit unnatürlich rotem Mund stammelte er Worte, die keinen Sinn ergaben. Über seine Wange spannte sich ein getrocknetes Rinnsal, das gleichermaßen gelb und rötlich braun war: ein Gemisch aus Eiter, Wundsekret und Blut.
    Sein Sohn, August der Jüngere, hatte die Hebamme zur Hilfe geholt. Jetzt zwang die alte Frau die Zähne des Kranken auseinander und verzog angewidert das Gesicht, als
sich ein fauliger Gestank verbreitete. »Die Zahnwurzel hat sich entzündet«, sagte sie und tastete den Unterkieferknochen ab, der sich unter dem Druck ihrer Finger verformen ließ. »Die giftigen Säfte haben sich ausgebreitet!«
    »Arrrggh!« Der Körper des freien Bauers bäumte sich auf.
    »Pass doch auf!«, sagte August der Jüngere.
    »Er wird sterben«, erwiderte die Hebamme. »Ich kann ihn nicht mehr retten!«
    »Was geht hier vor?«, fragte August der Ältere.
    »Die Hebamme ist gekommen, um Euch zu helfen«, erwiderte der Sohn.
    »Die alte Hexe! Sie wird mich umbringen!«
    »Ich bereite ihm ein Fiebermittel zu«, sagte die Hebamme, »welches die Entzündung hemmt und die Schmerzen lindert.«
    In einen Holznapf schüttete sie Weinessig, gab Blätter und Wurzeln hinzu und zerstieß das Eibischgewächs, so dass der Saft austreten konnte. Dann siebte sie die Pflanzenteile heraus und verdünnte die Medizin mit etwas Wein. Schlückchenweise gab sie es dem freien Bauern zu trinken. »Nur der Allmächtige kann ihm jetzt noch helfen«, sagte sie und verstaute die Gegenstände in einem Sack. »Jetzt bezahlt mich, Herr!«
    Normalerweise hätte August der Jüngere die dreiste Alte aus dem Haus gejagt, aber als Hebamme kam sie weit herum und stand mit vielen Leuten in Kontakt. Es war mit Sicherheit klüger, die Alte für sich zu gewinnen, als sie gegen sich aufzubringen. Wenn man Großes erreichen wollte, musste man Sorgfalt auf die kleinen Dinge verwenden. So öffnete er das Ledersäckel und griff hinein. »Diese Kupfermünze
ist für den beschwerlichen Weg, den du auf dich genommen hast, und diese Münze ist für die Medizin.«
    »Das ist viel zu viel, Herr!«
    »Nein, nein. Reden wir nicht weiter davon! Anständige Arbeit muss anständig bezahlt werden.«
    »Gott schütze Euch, Herr!«
    »Dich auch, gute Frau«, sagte August der Jüngere. Er schloss die Tür und hockte sich auf einen

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