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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
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endlich nach?
    Hartmann musste an die Adlerburg denken. In seiner Erinnerung war das Bruchsteinhaus riesig und von einem hohen Palisadenzaun und noch höheren Bäumen umgeben. Im Vorratsstall waren im Herbst stets saftige Birnen gelagert gewesen, von denen sich jeder bedienen konnte, wann immer er Hunger hatte. Wie sich die Eltern wohl freuen werden, wenn ich vor ihnen stehe?, fragte er sich.
    Plötzlich vernahm er ein bedrohliches Geräusch - das Knirschen von Holz -, welches immer dann erklang, wenn sich Jean de Reims aus seinem Stuhl erhob.
    Hartmanns Kopf schnellte nach vorne.
    Der Schulmeister schritt geradewegs auf ihn zu. »Berichte uns in freier Rede, was gerade übersetzt wurde.«

    Auf Hartmanns hilfesuchenden Blick hin formte sein bester Freund Ulrich lautlos Worte, aber es war unmöglich, die Lippenstellungen in so kurzer Zeit zu enträtseln. So ergab er sich in sein Schicksal. Er wusste längst, dass eine kleine Unaufmerksamkeit schon ausreichen konnte, um fürchterlich bestraft zu werden. »Ich weiß es nicht«, sagte er und streckte die Hände aus.
    Sogleich zerschnitt die Rute mit einem harten Zischen die Luft und traf auf seine Finger. Unter der Haut zeichneten sich Striemen ab und winzige Blutstropfen drangen aus den Risswunden. Schweiß trat auf seine Stirn, aber sein Mund blieb verschlossen. Schreie und Tränen würden die Hiebe nur verstärken.
    Nach einem Dutzend Streiche läutete die Glocke. Sie rief Mönche und Schüler zum Nachtgebet.
    »Lass dir das eine Lehre sein!«, sagte Jean de Reims, hängte die Rute an einen Haken und ging zum Ausgang. Nach und nach erhoben sich die Zöglinge und folgten ihm in einer Reihe. Auf der gegenüberliegenden Seite trat der Hilfslehrer, der den Elementarunterricht abhielt, auf den Umgang. Ihm folgten die jüngeren Schüler, denen der graue Wollstoff lose um die schmalen Schultern hing. Angesichts der Züchtigungen, die ihnen bei den geringsten Verfehlungen drohten, hielten sie den Kopf eingeschüchtert gesenkt.
    Nacheinander betraten die Zöglinge die winzige Kapelle. Die Bänke waren blankgesessen. Weihrauchschwaden zogen durch das Gewölbe. Zwei flackernde Kerzen streuten Lichtflecken über die ernsten Gesichter der Knaben.
    Hartmann hielt für Ulrich einen Platz frei. Der Freund, der von kleinerem Wuchs war, setzte sich neben ihn. Seine Schultern waren schmal und fielen ab. Über der blassen
Stirn, die in der Dunkelheit wie schmutziger Schnee schimmerte, flammte knallrotes Haar. Seinen Augen wohnte ein Stechen inne, das an die Hingabe der Märtyrer erinnerte. »Tut es noch weh?«, fragte er und fasste nach Hartmanns Hand.
    Die Berührung jagte einen heißen Schmerz durch seinen Arm. »Ich kann den Tag kaum erwarten, an dem diese sinnlose Prügelei endlich ein Ende hat.«
    »Die Prügelei ist nicht sinnlos«, erwiderte Ulrich. »Du vergisst, dass die Saat für einen gottergebenen Geist in der Disziplin liegt. Und was fördert die Disziplin mehr als die Angst vor Bestrafung?«
    »Na gut«, räumte Hartmann widerwillig ein, »dann hat die Prügelei eben einen Sinn, aber das heißt noch lange nicht, dass sie Christus gefällt. Oder kannst du dir unseren Heiland mit einer Rute vorstellen?«
    »Worauf willst du hinaus?«
    »Christus würde niemals jemanden züchtigen, nur weil er einen Moment unaufmerksam war. Selbst Menschen, die ganz schlimme Sünden begangen haben, begegnet er mit Liebe und Nachsicht. Ich kann nicht glauben, dass unser Schulmeister in seinem Sinne handelt. Ich glaube vielmehr, dass Jean de Reims im Grunde nicht verstanden hat, worum es unserem Heiland gegangen ist.«
    »Sprich nicht so laut«, flüsterte Ulrich. »Solche Flöhe kann dir nur der Spielmann, der immer im Gästehaus übernachtet, ins Ohr gesetzt haben!«
    »Es ist ganz egal, von wem ich es habe. Entscheidend ist nur, dass es wahr ist«, sagte Hartmann leise.
    »Wenn du nicht endlich aufhörst, solche Reden zu führen, wird es dich eines Tages den Kopf kosten!«

    Der Psalmengesang der Schüler setzte ein. Die dunkleren Stimmen forderten den hellen Gesang der Jüngeren heraus. Es entstand ein Wechselspiel, bis sich beide Stimmen wie zum Tanz vereinten, um sich gemeinsam in die Höhe zu schwingen. Hartmann liebte den Psalmengesang über alles; nicht selten versetzte er ihn in einen Schwebezustand, der ihn die Klosterregeln, die Züchtigungen und die kärgliche Speisung vergessen ließ und ihm ein Gefühl von Freiheit vermittelte. Mühelos fiel er in die Strophen ein und ließ sich

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