Der Minnesaenger
Hartmann fühlte sich geborgen. Beim Essen erkundigte er sich nach der jungen, weizenblonden Frau, die seine Mutter Beatrix gerufen hatte, und erfuhr, dass sie die Ehefrau seines Bruders war. Später äußerte seine Mutter die Besorgnis, dass die Mönche ihn von der Klosterschule verwiesen hätten. Hartmann konnte sie beruhigen und erklärte, warum sie ihm erst jetzt die Heimreise gestattet hätten. Erst als er sich nach den Schwestern erkundigte, stockte die Unterhaltung. Ob er denn nicht wisse, fragte die Mutter, dass ein schlimmes Fieber das Schwabenland heimgesucht hätte. Er nickte, woraufhin alle wieder betreten den Blick senkten. Heinrich, der ältere Bruder, lenkte von der Trauer ab, indem er mit einem spitzbübischen Lächeln fragte, ob es denn wahr sei, dass die Mönche sich an Schafen vergingen. Alle, sogar der stille Leutfried brachen in schallendes Gelächter aus. Nur Hartmann riss entsetzt die Augen auf. Es dauerte eine Weile, bis ihm klarwurde, dass in Aue andere Sitten herrschten als im Kloster.
Als sich alle zur Nachtruhe begaben, wurde er sich wieder der Anwesenheit seines Vaters bewusst. Bewegungslos saß das Familienoberhaupt am Ende der Bank und starrte in die Dunkelheit.
Hartmann hätte ihm gerne etwas Aufmunterndes gesagt, aber er traute sich nicht, den Schutzwall zu durchbrechen. Wahrscheinlich traute sich das niemand. Sein Vater musste sehr einsam sein.
4.
Am nächsten Abend stand die Sonne wie eine glühende Kupfermünze über dem Bergrücken. Unternehmungslustig begleitete Hartmann den Bruder und den Knecht zum Heimgarten. Die Bauern hockten um ein Lagerfeuer und sangen ein einfaches Frühlingslied: »Ich höre wieder die Vögel singen, / im Walde lieblich erklingen. / Ich nahm mein Mädel an die Hand / und wir liefen...«
Hartmann hatte längst begriffen, dass sich in Aue jeder so verhalten durfte, wie er sich gerade fühlte. Niemand musste Prügel, Essensentzug oder Einzelarrest fürchten, nur weil er gelacht oder versehentlich geniest hatte. Diese Ungezwungenheit war einfach herrlich. Er konnte tun und lassen, was immer ihm einfiel.
Mit Leichtigkeit erfasste er den Aufbau des Liedes. Zunächst zögerte er noch, aber getragen von einem unwiderstehlichen Gefühl der Freiheit konnte er sich bald nicht mehr zurückhalten und stimmte in die Strophen ein. Bald klatschte er den Rhythmus mit und variierte das Tempo. Die Bauern blickten ihn erstaunt an, aber schließlich ließen sie sich von ihm mitreißen und gaben ihr Bestes, bis sie völlig außer Atem waren und nicht weitersingen konnten.
Ein Bauer bot Hartmann einen Schlauch mit schwerem Wein an. »Hier, mein Junge. Gegen die Heiserkeit. So viel Spaß hatten wir schon lange nicht mehr.«
Hartmann lehnte strahlend ab und erklärte, dass Mönche und Klosterschüler nur so viel trinken dürften, wie ihnen ihr Durst geböte.
Der Bauer nahm es mit Humor: »Dann bleibt mehr für uns - haha!«
Hartmanns Abenteuerlust war noch nicht gestillt. Während die Hörigen derbe Späße trieben und sich weiter betranken, blickte er zur Kapelle hinüber, wo der Pfaffe Lampert mit vorgebeugtem Oberkörper auf einer Bank saß und eine Geschichte zum Besten gab. Schließlich klopfte er seinem Bruder auf die Schulter, ging hinüber und setzte sich lautlos unter die Zuhörer, denen vor Aufregung der Mund offen stand.
Die kehlige Stimme des Pfaffen klang eindringlich, als er sagte: »... aber der Herr warf einen gewaltigen Sturm über das Meer. Die Schiffsleute klammerten sich aneinander und sprachen in Angst um ihr kümmerliches Dasein zu Jona: ›Was sollen wir tun, damit der Herr von uns lässt?‹ Und Jona sprach gefasst: ›Werft mich über Bord, so wird das Wasser ruhig werden, denn ich weiß, dass dieser gewaltige Sturm um meinetwillen über euch gekommen ist... ‹«
Die fesselnde Erzählweise Lamperts zog auch Hartmann in ihren Bann. Das Jonaswunder aus den prophetischen Büchern kannte er gut, weil es nach den Evangelien ein Vorbild des Todes und der Auferstehung Christi war und häufig von seinem Schulmeister zitiert wurde.
Der Pfaffe führte mit großen Gesten weiter aus: »Jona aber wurde nicht verschont, denn der Herr sandte einen riesigen Fisch, der ihn verschlang. Sieben Tage und sieben Nächte verbrachte Jona im Bauch des Fisches...«, und Hartmann fühlte sich sogleich in eines der Streitgespräche mit Ulrich versetzt. Und so wie er seinen Freund zurechtgewiesen hätte, griff er auch hier in die Erzählung Lamperts ein und sagte:
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