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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
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»Es waren aber nur drei Tage!«
    »Was sagst du, mein Sohn?«, fragte der Pfaffe und schaute irritiert drein.

    Hartmann war noch ganz berauscht von seinem musikalischen Erfolg und sagte selbstsicher: »Jona verbrachte nur drei Tage und Nächte im Bauch des Fisches und nicht sieben. Es heißt: ›... et erat Jonas in ventre piscis tribus diebus et tribus noctibus. ‹ Auch bei Matthäus spricht Christi zu den Schriftgelehrten und Pharisäern: ›Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Meeresungetüms war, so wird der Sohn des Menschen drei Tage und drei Nächte im Schoß der Erde sein.‹«
    Siegesgewiss wartete Hartmann ab. Lampert musste jetzt zustimmen oder ihn durch andere Zitate widerlegen, aber nichts davon geschah. Stattdessen starrte ihn der Prediger nur ausdruckslos an. Schließlich erhob er sich von der Bank und schlurfte - ohne ein weiteres Wort zu verlieren - mit hängenden Schultern davon.
    Ein kleines Mädchen rief: »Vater, wo wollt Ihr denn hin? So bleibt doch hier und erzählt weiter! Was wird aus Jona im Bauch des Fisches?«
    Auf halbem Weg blieb Lampert noch einmal stehen und sagte über seine Schulter hinweg: »Fragt doch ihn. Er weiß es besser als euer alter Prediger.«
    »Aber wir wollen die Geschichte nicht von ihm hören, sondern von Euch«, sagte ein Halbwüchsiger. »Niemand vermag sie mit solchem Schmuck zu bekleiden wie Ihr, Vater.«
    »Deine Worte tun mir wohl, mein Sohn, aber die Unterbrechung hat mich aus dem Strom gerissen. Selbst wenn ich wollte, könnte ich die Geschichte nicht fortsetzen.« Lamperts Stimme drohte zu ersticken. »Verzeiht mir!«
    »Vater!«, rief der Halbwüchsige noch, aber da war der Prediger schon um die Ecke gebogen.

    »Dann berichte du uns«, sagte ein verhärmter Bauer und zeigte auf ihn, »wie es Jona im Bauch des Fisches erging.«
    Hartmann vernahm sehr wohl den drohenden Unterton. Mittlerweile hatte er begriffen, dass er einen Fehler begangen hatte. Er konnte seine Zwischenrede nicht mehr rückgängig machen, aber er konnte die Situation retten: »Jona war also drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches... und dann betete er... und sprach zu Gott... und er flehte seinen Herrn an... äh... er flehte ihn also an... ihn... also Jona, meine ich... äh... aus der Undterwelt zu befreien...«
    Mitten in der Erzählung erhob sich eine alte Frau. Sie streckte die Hand nach der Enkelin aus und sagte: »Komm, meine Blume, es wird Zeit, dass wir heimgehen.«
    Unter den Anwesenden setzte ein Gemurmel ein. Einige kamen auf die Beine und rieben sich über den Hosenboden. Andere dehnten ihre Gliedmaßen und gähnten laut. Hartmann stand da und dachte, dass es kaum schlechter hätte laufen können. Er sollte sich täuschen.
    Ein gedrungener Mann mit Stiernacken stellte sich neben ihn und flüsterte ihm so leise ins Ohr, dass niemand sonst etwas verstehen konnte: »Du Klugscheißer! Mit deiner Besserwisserei hast du mir die schöne Geschichte versaut! Du solltest besser aufpassen, wenn du nicht...«
    »August!«, erklang da eine weibliche Stimme, »was machst du da?«
    Der Mann zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht und drehte sich um. Beinahe galant verbeugte er sich gegen ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen, das ein helles Leinenkleid trug. »Judith! Mit jedem Tag wirst du schöner! Wie machst du das nur?«

    »Nun übertreib mal nicht«, erwiderte das Mädchen.
    Obwohl sie sich sieben Jahren nicht mehr gesehen hatten und seine Erinnerung mittlerweile verblasst war, erkannte Hartmann die frühere Spielgefährtin sofort wieder. Judith hatte ein empfindsames Gesicht, in dem die warmen, bernsteinfarbenen Augen besonders auffielen. Ihr langes, dunkelbraunes Haar reichte ihr bis zum Gesäß.
    Hartmann beobachtete, wie August sich ein zweites Mal verbeugte und dann davonging. Die ganze Situation verwirrte ihn. Was hatte der Kerl eigentlich von ihm gewollt? Warum hatte er so plötzlich von ihm abgelassen? Und warum verhielt er sich in Judiths Gegenwart so ehrerbietig? Diese Menschen gaben ihm Rätsel auf. Er würde noch eine Weile brauchen, bis er ihre Gepflogenheiten verstanden hatte.
    »Willst du mich begleiten?«, fragte Judith, nachdem sie sich etwas förmlich begrüßt und aus den Augenwinkeln begutachtet hatten.
    »Gerne!«, erwiderte Hartmann. Die Hörigen waren an ihm vorübergegangen, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen; wenigstens Judith ließ ihn nicht stehen und begegnete ihm mit Freundlichkeit. Als Hartmann die Pforte hinter ihnen

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