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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
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hatten, wenn es irgendwo schmerzte. Sie konnte sich nicht erklären, warum die Menschen ausgerechnet sie gefragt hatten, aber die Vergangenheit hatte gezeigt, dass ihr durch Überlegung Maßnahmen eingefallen waren, die eine Besserung herbeigeführt hatten. So tastete sie auch heute den Schädel der Mutter ab, bis sie zu den Schläfen gelangte, wo sie ein wenig Hitze spürte. Langsam ließ sie ihre Fingerspitzen über der Stelle kreisen.
    »Das tut gut«, sagte Mechthild. »Ich habe keine Ahnung,
wie du das anstellst, aber ich hoffe, dass es kein Teufelswerk ist.«
    Judith erschrak über die Worte. Manchmal hatte sie kein Vertrauen in ihre Fähigkeiten. In ihrer Familie gab es nicht eine heilkundige Frau. Normalerweise wurde das Wissen von Generation zu Generation vererbt, aber in ihrem Stammbaum gab es nur Bauern. Wie konnte sie so viel Geschick an den Tag legen, wenn alles mit rechten Dingen zuging? »Ich möchte nicht, dass du so daherredest«, sagte sie und streckte sich der Länge nach aus, um sich von der Sonne trocknen zu lassen. Als sie plötzlich die musternden Blicke der Mutter spürte, öffnete sie die Augen. »Warum guckst du mich immer so an?«
    »Gefällt dir einer der Jünglinge aus dem Dorf?«, fragte Mechthild.
    »Warum willst du das wissen?«
    »Früher oder später müssen dein Vater und ich dir einen Ehemann auswählen.«
    »Das hat doch noch Zeit!«
    »Wie gefällt dir eigentlich August, der freie Bauer?«
    »August ist klüger als die anderen Bauern, aber er starrt mich immer so an... Ach, ich weiß auch nicht!«
    »So kann nur ein unerfahrenes Ding daherreden. August ist ein gottesfürchtiger Mann. Obwohl er von freiem Stand ist, behandelt er niemanden von oben herab.«
    »Da hast du sicher Recht!«
    »Außerdem ist er reich. Weißt du, wie viel Land er besitzt?«
    »Muss man denn reich sein, um ein glückliches Leben zu führen? Du und Vater, ihr seid doch auch nicht...«
    »Dein Vater ist ein friedfertiger Mann, der keiner Fliege
etwas zuleide tut. Er ist fleißig und gottesfürchtig, er trinkt nicht und er hurt nicht. Aber das ist auch schon alles. Jegliche Vorstellungskraft geht ihm ab. Wenn ich ihm von dem Weißbrot erzähle, das die Bäcker auf dem Markt verkaufen, will er mir doch tatsächlich weismachen, dass wir für den Haferschleim dankbar sein sollen, den wir tagein, tagaus hinunterwürgen.«
    »Vielleicht ist Vater klüger, als du denkst, vielleicht...«
    »Du hast ja keine Ahnung«, sagte Mechthild mit sauertöpfischer Miene. Und erst als sie ihre Tochter erneut wohlwollend musterte, vertrieb dies ihre Verbitterung. »Komm, lass uns zum Haus gehen. Ich will deine Haare kämmen und das Kleid ausbürsten. Beim Gottesdienst sollst du die Schönste sein.«

6.
    Hartmann saß neben seiner Mutter in der vordersten Bank. Er war wohl der Einzige, der die Posse durchschaute, aber er hatte seine Lektion gelernt. Seine Erkenntnisse behielt er besser für sich. Ein Missgeschick wie im Kapellgarten würde ihm nicht noch einmal passieren.
    Zwar fuhr der Pfaffe Lampert mit dem Zeigefinger über die Zeilen der Heiligen Schrift, was den Anschein erweckte, dass er aus den Evangelien vorlas, aber er gab nur ein genuscheltes Kauderwelsch von sich, das dem Lateinischen nur entfernt ähnelte. Nach einem betonten Wort, das so ähnlich klang wie »irasomondiäl«, schlug er die Heilige Schrift zu und sprach salbungsvoll: »In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti.« Offenbar war das die einzige Redewendung, die er fehlerfrei beherrschte.

    Jetzt baute sich der Pfaffe Lampert vor dem Altar auf. Mit eindringlichen Blicken zog er die Zuhörer in seinen Bann und sagte dann mit dem gebotenen Ernst: »Liebe Gemeinde, am Karfreitag streifte ein Komet den nördlichen Himmel. Das war ein Zeichen, denn die Sünde greift wieder um sich. Der Allmächtige wird ein Strafgericht abhalten. Über uns sitzt er bereits mit gezücktem Schwert, um die Unwürdigen der Hölle anheimzugeben...«
    »Oh«, entfuhr es einerWitwe aus der hinteren Bank. Vor Schreck hielt sie sich die Hand vor den Mund.
    Unauffällig überzeugte sich Lampert, ob auch alle die Reaktion mitbekommen hatten. Dann breitete er schützend seine Arme aus und rief: »Fürchtet euch nicht, Brüder und Schwestern im Glauben, denn im Traum erschien mir die Jungfrau Maria. Sie trug mir auf, unbefleckte Spenden zu sammeln und die Kollekte...«, Lampert rollte mit den Augen, »sagen wir mal, den Kranken in Jerusalem zukommen zu lassen.« Der Prediger trat

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