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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
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wiederholen und zu ergänzen waren, um sich die Schriften der Dichter schneller zu erschließen. Der andere Band war von einem vergleichbaren Inhalt und behandelte die Sprache der Franken.
    » Comment ça va, mon fils?«, fragte der Schulmeister. »Ich bringe dir die Bücher!«
    »Ich danke Euch, Vater!«, sagte Hartmann.
    »Ich will dir auch Grüße von Ulrich übermitteln. Er fragt sehr häufig nach deinem Befinden und schließt dich in seine Gebete ein.«
    »Ich denke auch oft an ihn.«
    Der Blick des Schulmeisters fiel auf Hartmanns Rücken, der für immer entstellt bleiben würde. »Du solltest dich glücklich schätzen, dass der Allmächtige dir eine zweite Chance gewährt hat.«
    »Ja, ich bin sehr dankbar, dass ich noch lebe. Und ich bin fest entschlossen, meine zweite Chance zu nutzen!«
    »Es freut mich sehr, dass du Einsicht zeigst. Jetzt muss ich wieder los!«
    Während der Schulmeister auf den Ausgang zuging, legte sich Hartmann umständlich auf die Seite und starrte auf die Mauer. Sollen sie doch denken, dass ihre Teufelsaustreibung erfolgreich war!, dachte er. Die Musik gebe ich niemals auf!

Im Jahre des Herrn 1175

1.
    Ein Jahr später waren Hartmanns äußere Wunden längst verheilt. Der sonntägliche Spaziergang stand an und er ging mit Ulrich auf die Klosterpforte zu. Eine Gruppe von Acht- bis Neunjährigen schloss zu ihnen auf und versuchte Schritt zu halten.
    »Dürfen wir euch begleiten?«, fragte der Rädelsführer und blickte zu Hartmann auf.
    Die Geißelung beschäftigte die Jüngeren noch immer. Manch einer mied Hartmanns Nähe, weil von einem solchen Menschen Unheil ausgehen müsse. Andere erkannten in ihm einen Rebellen, weil er trotz eines klaren Verbots musiziert hatte.
    »Mir soll’s recht sein!«, sagte Hartmann. Das muntere Geschwätz der Knaben wird die peinlichen Pausen im Gespräch mit Ulrich übertönen , dachte er.
    »Auf keinen Fall!«, sagte hingegen der Freund. »Sucht euch gefälligst eine andere...«
    »Hartmann!«, rief da der Schulmeister und lief quer über den Hof zu ihnen. »Hartmann, warte! Ich muss mit dir reden!«
    Der Jüngling hatte sofort ein mulmiges Gefühl: Ein Gespräch mit Jean de Reims bedeutete in der Regel nichts
Gutes. Doch im Laufe eines Jahres hatte er gelernt, seine Gefühle zu verbergen. »Wie Ihr wünscht, Vater!«
    »Nicht hier! Lass uns hinunter zum Bach gehen.«
    Hartmann folgte seinem Schulmeister und fragte sich, was er verbrochen haben könnte. Er ging die gesamte letzte Woche durch, konnte aber keine Verfehlung feststellen. Vielmehr war er ein Vorbild an Fleiß und Disziplin gewesen. Was wollte Jean de Reims nur von ihm?
    Im Schatten der äußeren Klostermauer gingen sie den verkrusteten Pfad hinunter. Die Strahlen der Frühlingssonne entlockten den Sümpfen die ersten Mückenschwärme. An der Flussbiegung schoben sie sich durch das Gestrüpp und trafen auf den kleinen Strand.
    »Setz dich dort auf den Stumpf«, befahl Jean de Reims und ging zur Wasserkante vor. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und starrte auf den Strom. »Der Bruder Pförtner ist vor zwei Monaten gestorben!«
    »Er war ein gütiger Mann«, sagte Hartmann. »Der Allmächtige wird sich seiner unsterblichen Seele annehmen!«
    »Ja, ja! Ich will damit sagen, dass ein Platz in der Bruderschaft frei geworden ist. Der Abt hat mich angewiesen, ihm einen Zögling zu nennen, der über genügend Geisteskraft verfügt, um die Lücke zu schließen.«
    »An wen habt Ihr gedacht?«
    »Du warst immer ein guter Schüler, aber im vergangenen Jahr hast du dich selbst übertroffen. Die Träumereien hast du ganz abgelegt und den gebotenen Ernst gezeigt. Dein Wissensdurst kannte keine Grenzen. Auch an Sorgfalt mangelte es dir nicht: Beim Briefdichten glänzte dein Ausdruck in solcher Präzision, dass ich zu der Überzeugung gelangte, dass deine Fähigkeiten uns nicht verlorengehen
dürfen. Wenn wir deinem Geist fruchtbaren Boden bieten, wird die Ernte reich ausfallen!«
    »Ihr wollt, dass ich...«
    »Dein ganzes Betragen zeigt mir, dass du wieder auf dem rechten Pfad bist«, unterbrach er ihn. »Strenge verliert ihren Wert, sobald sie ohne Milde angewendet wird. Ansonsten ist sie nichts als Tyrannei. Gott hat dir in seiner Liebe reiche Geistesgaben geschenkt. Im Kreise unseres Konvents kannst du es zu einem Buchgelehrten bringen. Wenn du einverstanden bist, setze ich mich beim Abt für deine Aufnahme ein.«
    Hartmann sammelte sich einen Moment. Er hatte mit dem Rohrstock oder einer

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