Der Minnesaenger
begeben.
2.
Judith griff nach dem Wäschekorb und verließ das Haus. Sie ging über die Weidefläche und bot ihr Gesicht der Sonne dar. Nach den dunklen Wintertagen waren die warmen Strahlen eine Wohltat. Fast augenblicklich spürte sie, wie sich ihre Stimmung hob.
Im Grunde hatte sich ihr Leben nicht sehr verändert. Von früh bis spät verrichtete sie Hausarbeiten und half auf dem Hof. Die Ehe mit August hielt keine großen Überraschungen bereit. Tagsüber sprachen sie nur das Nötigste miteinander und bei der Verrichtung ihrer Pflichten hatte sie vollkommen freie Hand. Es erfüllte sie mit Stolz, dass er noch nie einen Grund zur Beanstandung gefunden hatte.
Am Bach stellte sie den Korb ab und griff nach einem Laken. In dem klaren, glitzernden Wasser tauchte sie den Stoff unter und wrang ihn aus. Nur die fleischlichen Pflichten bereiteten ihr Kummer. Als Ehefrau musste sie ihm zur Verfügung stehen, wann immer er sie haben wollte. Erst
wenn ihr Bauch gesegnet war, durfte sie sich ihm verweigern - so sagten zumindest die Pfaffen.
Judith erhob sich und schlug das Laken auf einen runden Flussstein. Ach, eigentlich konnte sie nicht glauben, dass August sich durch die Pfaffen aufhalten ließ. Sein Geschlechtstrieb war einfach zu stark. In manchen Nächten nahm er sie dreimal. Zwar hatte sie nicht mehr so große Schmerzen wie am Tag der Eheschließung, aber sie fand die Beiliegungen nach wie vor erniedrigend.
Im Spätherbst war sie zum Hasgelhof gegangen, um sich einen Ratschlag zu holen, aber die Mutter hatte nur gesagt, dass sie sich glücklich schätzen solle, dass ihr andere Männer nicht mehr nachstellen würden. Eine kleine Gegenleistung könne sie ihrem Ehemann ja wohl zugestehen. Außerdem solle sie sich erfreulicheren Dingen zuwenden wie beispielsweise den schönen Geschenken, die ihr August vom Freiburger Wochenmarkt mitbringen würde; erst kürzlich hätte er doch wieder diesen hübschen Armreif für sie erstanden.
Judith griff sich ein neues Wäschestück aus dem Korb und kniete sich an die Wasserkante. Wahrscheinlich hatte die Mutter Recht, immerhin sprach die Erfahrung einer langjährigen Ehe aus ihr. Trotzdem konnte Judith ihre Gefühle nicht ignorieren. Der jetzige Zustand zehrte sie von innen auf. Sie spürte deutlich, dass sie immer unglücklicher und ängstlicher wurde. In der Vergangenheit hatte sie zwar einiges Geschick darin entwickelt, den Akt hinauszuzögern, aber letztendlich war sie ihm doch ausgeliefert gewesen.
»Grüß dich!«, sagte da jemand. »Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen.«
Judith stand auf und trocknete die nassen Hände an ihrem Wollumhang ab. Erst als sie ihre Augen gegen das Sonnenlicht beschirmte, erkannte sie, dass Agnes von der Adlerburg vor ihr stand. Trotz ihres langen, grau melierten Haares war sie immer noch von einer herben Schönheit. Auf ihrem Rücken trug sie ein Holzgestell, das normalerweise Reisende benutzten, um Lasten zu transportieren. Wahrscheinlich kam sie gerade von einem ihrer Streifzüge durch die Wälder zurück, wo sie regelmäßig nach Heilpflanzen suchte. »Ich finde es auch schade, dass wir uns so lange nicht getroffen haben.«
»Warum besuchst du mich nicht mal? Die Leute erzählen mir immer, was für einen wohltuenden Einfluss du auf sie hättest. Vielleicht hast du eine besondere Gabe, mit Kranken umzugehen.«
»Meint Ihr wirklich, Herrin? Ich weiß ja selber nicht mal, wie ich das anstelle.«
»Ich könnte dir alles beibringen, was ich über Kräuter weiß. Dann könntest du den Menschen nicht nur nach deinem Gefühl, sondern auch mit deinem Wissen helfen. Außerdem würde ich mich über eine Mitstreiterin freuen. Seit dem Tod der alten Hebamme kann ich die Arbeit kaum noch bewältigen.«
Natürlich gab es einen triftigen Grund, warum Judith seit dem Pfingstfest nicht mehr zur Adlerburg gegangen war. Angestrengt überlegte sie, wie sie sich ausdrücken sollte. Einerseits wollte sie Agnes’ Gefühle nicht verletzen, andererseits wusste sie genau, dass ihr Ehemann die Familie von der Adlerburg verachtete, wenn nicht gar hasste. Einen, wie auch immer gearteten, Kontakt würde er niemals erlauben. »Alles ist noch so neu«, sagte sie
und schämte sich für die Notlüge, »und ich habe so viele Pflichten, dass ich gar nicht die Zeit erübrigen könnte.«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte Agnes. »Natürlich musst du dich erst einleben, aber meine Tür steht immer für dich offen. Komm, wann immer du willst.«
3.
August
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