Der Minnesaenger
schluchzte laut auf und wischte sich erneut mit dem Handrücken über die Wange. Sie musste jetzt endlich stark sein, sie musste diese lächerlichen Tränen endlich in den Griff bekommen! Gleich wollte sie sich anziehen, gleich wollte sie sich der Festgesellschaft zeigen. Nur einen Moment wollte sie noch für sich sein...
Draußen brachten die Tanzenden den Erdboden zum Beben. Paarweise sprangen sie ums Feuer und zeigten ihre Begeisterung für das köstliche Mahl, für die Schönheit der Sterne und für den morgigen Tag. Heute wollten sie die Armut, den täglichen Hunger und die Sorgen vergessen, heute wollten sie einfach nur glücklich sein. Und obwohl sie längst erschöpft waren, hakten sie sich in die Arme ihrer Tanzpartner ein und warfen die Beine erneut in die Luft. Der Fiedler gestattete weder ihnen noch sich selbst eine Pause und das Jubelgeschrei hallte durchs Hexental. »Danke, August! Danke für das schöne Fest!«
Als Judith das Steinhaus verließ, stand der Mond schon hoch über Aue. Ihre dunklen Augen schauten so tapfer drein, dass sie von einer rührenden Schönheit war, die den Gästen noch lange Gesprächsstoff bieten sollte. Ausgiebig herzte und drückte die junge Frau ihren lieben Vater, nahm lächelnd die Glückwünsche der Bauern entgegen und sprach selber ein paar gute Worte. Bengt griff irgendwann nach ihrer Hand und zog sie auf die Tanzfläche. Widerstandslos ließ sie sich drehen und hochheben.
9.
Das Spital war wegen der Ansteckungsgefahr aus der Klausur ausgegliedert worden. Hartmann lag neben einem älteren Mönch, der zuweilen wüst losschimpfte, weil er einen Bruder verdächtigte, ihm den faulen Apfel, auf dem er ausgerutscht war, mit Absicht in den Weg gelegt zu haben. Hartmann achtete nicht weiter auf dieTiraden und tauchte seinen Löffel in die dampfende Suppe, die den würzigen Geruch nach Heilkräutern verströmte.
Über zwei Monate waren seit der Züchtigung vergangen. Der Bruder Arzt hatte ihm erzählt, dass er mehrere Wochen zwischen Leben und Tod geschwebt hätte. Auch hatte der Medikus sein Erstaunen darüber geäußert, wie schnell der Heilungsprozess vonstattengegangen wäre, seitdem der Knabe das Bewusstsein zurückerlangt hätte.
Damit die Wunden nicht aufbrachen, durfte Hartmann nur aufstehen, um zum Abort zu gehen, so dass er mehr als genug Zeit hatte, die zurückliegenden Geschehnisse zu überdenken. Ulrich hat seiner Überzeugung mehr Gewicht eingeräumt als meiner, dachte der Knabe. Von Anfang an hat er
das Harfenspiel verdammt. Er hat nicht einmal versucht, sich mit mir zu freuen. Ich darf es nicht länger verleugnen: Sein Horizont ist begrenzt, er endet an den Klostermauern!
Hartmann setzte die dampfende Suppenschüssel auf dem Steinfußboden ab und legte sich auf den Bauch. Sein Rücken tat dabei so weh, dass er die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht zu schreien. SeitTagen dachte er darüber nach, wie es mit ihm weitergehen sollte. Aus den Erzählungen Blixas wusste er, dass die Edelleute Gefolgsleute um sich scharten, die gelehrt waren und ihnen im Winter Musik vortrugen. Sein Vater hatte für seine Unterbringung in der Klosterschule gesorgt. Vielleicht konnte er noch einmal bei dem Herzog von Zähringen vorsprechen und für seine Unterbringung am Freiburger Hof sorgen.
Hartmann machte sich seine Fähigkeiten bewusst: Im Lesen und Schreiben zählte er zu den Besten; er kannte sich im Römischen Recht aus und beherrschte die Sprache der Franken. Das waren Qualifikationen, die Berthold IV durchaus von Nutzen sein konnten.
In einem Jahr würde seine Ausbildung an der Klosterschule beendet sein. Dann wäre ein weiterführender Undterricht nur in der Novizenschule möglich. Dafür müsste er allerdings das Gelübde ablegen, was einer lebenslangen Verpflichtung gleichkäme. An einem Ort, wo Willkür und Gewalt herrschten, wollte er jedoch nicht bleiben. In einem Jahr würde er die Abtei verlassen. Bis zu diesem Zeitpunkt würde er alles lernen, was ihm am Hof des Zähringers nützlich sein könnte. Und niemanden, nicht einmal Ulrich, würde er in seinen Plan einweihen.
In diesem Augenblick betrat sein Schulmeister, Jean de Reims, die Krankenstube. In der Hand trug er die beiden
Bücher, um die Hartmann gebeten hatte. Bei dem einen Band handelte es sich um ein lateinisches Gesprächsbüchlein, das jeder Zögling anzufertigen hatte. Es enthielt Worte aus dem Alltag, Fragen und Antworten und eine große Anzahl von Vokabeln, die fortwährend zu
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