Der Minnesaenger
Klarheit ein, dass sie nicht an ihrer Richtigkeit zweifelte. Wenn Hartmann sie fragen sollte, ob sie mit ihm wegginge, würde sie ihm eine abschlägige Antwort erteilen.
18.
»Warum weinst du?«, fragte Hartmann.
»Es ist nichts«, erwiderte Judith. »Ich hab nur ein Staubkorn ins Auge bekommen. Bitte erzähl weiter.«
Hartmann tat ihr den Gefallen. In ihrer Gegenwart fühlte er sich lebendig. Alle Ecken und Kanten, die er sich zugelegt hatte, um am Hof des Zähringers zu bestehen, wurden durch ihr sanftes Wesen abgemildert. An ihrer Seite musste er nicht den harten Krieger, den fleißigen Kanzleigehilfen oder den inspirierten Sänger markieren, sondern durfte sich so geben, wie er sich fühlte.
Mit Begeisterung erklärte er, dass der Inhalt des Minnelieds die Minneklage eines Mannes an eine unerreichbare Frau wäre. Streng davon zu unterscheiden sei das Frauenlied, in dem die Angebetete ihr Bedauern ausdrücke, dass sie ihn zurückweisen müsse. Beide Liedformen unterlägen einem strikten Aufbau, der unbedingt einzuhalten sei.
Hartmann beantwortete alle Fragen, die Judith ihm stellte. Doch erst mit der Zeit fiel ihm auf, dass die Schwere in ihrer Stimme nicht zu ihrem Wissensdurst passte. Auf keinen Fall wollte er sie langweilen. So rundete er seine Ausführungen elegant ab und versuchte, auf den eigentlichen Grund seines Hierseins zu kommen. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen, atmete tief durch und sagte: »Seitdem wir uns an dem Markttag in Freiburg das letzte Mal sahen, musste ich ständig...«
»Mir fällt da gerade ein«, unterbrach Judith ihn, »dass im Heimgarten ein fahrender Musikant ein Lied sang, in dem sich zwei Liebende verabschiedeten. Etwas Vergleichbares habe ich schon öfters gehört.«
»Äh, das war vermutlich ein Tagelied. Es ist ebenfalls auf einen bestimmten Inhalt festgelegt und schildert das Liebespaar nach einer gemeinsam verbrachten Nacht kurz vor der Trennung...« Er setzte ihr noch die Merkmale des Mädchenliedes, des Kreuzliedes und des Naturliedes auseinander, ehe er sich an seinen Vorsatz erinnerte. »Worauf ich eigentlich hinauswollte...«
Sofort stellte Judith eine neue Frage, und Hartmann begriff endlich, dass sie den Inhalt des Gesprächs bestimmte. Sie ermutigte ihn, über die höfische Kunst zu sprechen, damit er nicht von etwas anderem anfangen konnte. Ahnte sie vielleicht, weshalb er gekommen war? Wollte sie vermeiden, dass er von seinen Gefühlen sprach?
Als sie sich auf den Rückweg zur Adlerburg begaben, war Hartmann verwirrt und antwortete auf ihre Fragen nur noch halbherzig. In der Wohnküche zwängte er sich zwischen seinen Vater und den Bruder auf die Bank. Während sich eine Unterhaltung über die Zustände am Hof des Zähringers entwickelte, sah er immer wieder zu Judith hinüber, die auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches saß und seinem Blick mit einer entwaffnenden Offenheit begegnete. In ihren Augen las er keine Ablehnung, sondern nur die dringende Bitte um Verständnis. Und allmählich begriff er, was bei dem Spaziergang in ihr vorgegangen sein musste.
Sie war eine ehrbare, verheiratete Frau. Die Leute würden auf dumme Gedanken kommen, wenn er ihr nachstellte. Aber selbst wenn sie ihn erhörte- was konnte er ihr schon bieten? Ihm gehörte ja nicht einmal die Kleidung, die er am Leib trug. Er hielt nur Worte und Gefühle für sie bereit, aber damit allein konnten sie in der Welt
nicht bestehen. Er konnte ihr keinen Schutz und keine Sicherheit bieten. Die Kluft zwischen Kunst und Wirklichkeit war unüberbrückbar. Er hatte sich von Träumen hinreißen lassen, während Judith alle Konsequenzen bedacht hatte. Wie hatte er nur so selbstsüchtig sein können, um sie einer derartigen Situation auszusetzen?
Tief beschämt starrte er in seinen Napf und schaufelte den Habermus in sich hinein. Gleich nach der Mahlzeit verabschiedete er sich und begab sich zurück nach Freiburg. Während die Schatten der Bäume länger wurden, dachte er über sich und sein Leben nach. Die Freundschaft zu Ulrich war gescheitert, seine Liebe zu Judith blieb unerfüllt. In Seelendingen war ihm kein Glück beschieden. Hartmann fühlte sich sehr einsam. Auch am Hof des Herzogs von Zähringen gab es niemanden, dem er sich anvertrauen konnte. Die Edelleute sahen in ihm eine Bedrohung und das Gesinde begegnete ihm mit Neid. Die Musik und die Arbeit in der Kanzlei waren alles, was er hatte. Und er nahm sich vor, diese Aufgaben mit größter Leidenschaft zu verfolgen.
Im Jahre des
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