Der Minnesaenger
brutale Umgang mit dem Thema schüchterte Hartmann nicht nur ein, sondern erzeugte auch Widerwillen. An einer Verknüpfung von derartigen Grobheiten mit natürlichen Empfindungen wollte er sich nicht beteiligen.
Blieben noch die Minnelieder. Durch den beinahe täglichen Umgang mit ihnen hatte Hartmann begonnen, die Beziehung zwischen Mann und Frau mit künstlerischen Augen zu betrachten. Ein Idealbild hatte in ihm konkrete Formen angenommen, nach dem die Annäherung schrittweise erfolgen sollte. Dabei durfte nicht die Eheschließung einzige Voraussetzung für den Geschlechtsakt sein - ihr sollte vor allem ein segnender Charakter zukommen -, nach seiner Meinung sollte die Gegenseitigkeit der Gefühle als die entscheidende Bedingung gelten. Mann und Frau mussten in dem anderen Merkmale entdecken, die so liebenswert, anziehend und schön waren, dass sich ein Seelenband entwickelte. Innere und äußere Widerstände konnten dabei Bewährungsproben darstellen, die über die Wahrhaftigkeit der Gefühle entschieden. Erst wenn sich beide in Liebe zugetan waren, hatte die Beiliegung einen veredelnden Charakter.
Mit dieser Feststellung hatte er auch die Ursache gefunden, warum er die Dame Johanna abgewiesen hatte. Zwar
schätzte er ihre schöne Gestalt, ihre Musikalität und Klugheit, aber sie war nicht die Frau, mit der er sich verbunden fühlte. Diese Frau hieß Judith.
In den vergangen Monaten hatte er immer wieder an sie denken müssen. Natürlich wusste er, dass sie mit dem freien Bauern verheiratet war, aber in den Minneliedern sang er oft von unglücklichen Verhältnissen. Musste er ihr nicht zumindest sagen, was er für sie empfand, damit sie Bescheid wusste? Wenn eine Gegenseitigkeit gegeben war, würden sich bestimmt Mittel und Wege finden lassen, die sie enger zusammenrücken ließen. Vielleicht war die Erfüllung ihrer Sehnsüchte sogar näher, als sie glaubten.
Hartmann nahm sich vor, zuerst zur Adlerburg zu gehen. Vielleicht wusste seine Mutter, wo er Judith treffen konnte. Er stellte sich vor, wie er vor ihr stehen würde, und fragte sich, was er sagen sollte. Natürlich fiel ihm keine passende Eröffnung ein. In solchen Dingen war er unerfahren. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als das Treffen auf sich zukommen zu lassen. Vor Aufregung wurde ihm ganz flau im Magen, und er pfiff eine Melodie vor sich hin, die er sich gestern ausgedacht hatte. Tatsächlich beruhigte ihn die Musik, aber auf das langsame Lied folgten ein schnelles, dann ein noch schnelleres und schließlich ein stürmisches. Er konnte gar nichts dagegen unternehmen...
15.
Judith konnte ihr Glück immer noch nicht fassen: August blieb auch nach Tagen wie vom Erdboden verschluckt. Weder der Knecht noch die Magd noch die Bauern im Dorf hatten eine Ahnung, wohin er geritten war. Manchmal,
wenn Pferde durchs Hexental galoppierten, schreckte sie noch zusammen. Natürlich fürchtete sie, dass ihr Ehemann zurückkehren könnte, um sie zu bestrafen. Angestrengt lauschte sie dann in die Ferne. Erst wenn der Hufschlag wieder leiser wurde, hatte sie sich so weit im Griff, um sich ins Gedächtnis zu rufen, dass August die gesamten Ersparnisse mitgenommen hatte. All seine Bemerkungen der vergangenen Monate - dass ihr Schamgeruch ihn anekele, dass ihm die Frömmelei der Bauern zum Hals raushänge und dass ihn dieses Dorf zu Tode langweile-bestärkten sie in der Hoffnung, dass er mit seinen Spießgesellen verschwunden war, um ein neues Leben anzufangen.
Judith nahm das Linnen von dem Tamburin und betrachtete die Stickereien. Mit farbigen Fäden hatte sie verschiedene Kräuter und Blumen abgebildet, denen in der Heilkunde eine Bedeutung zukam. Das Schultertuch eignete sich für die Übergangszeit und war als Geschenk für Agnes gedacht. Die gute Frau hatte ihr das so großzügige Angebot unterbreitet, sie unterrichten zu wollen, dass sie nicht mit leeren Händen vor ihr stehen wollte. Sorgfältig legte sie die Stickarbeit zusammen und verließ das Haus.
»Herrin«, rief der Knecht. »Wo wollt Ihr hin? Wenn Ihr uns auch noch verlasst, was sollen wir dann tun?«
»Drescht in meiner Abwesenheit das Korn aus den Ähren«, erwiderte Judith. »Vor Sonnenuntergang bin ich zurück.«
Sie stemmte dasTor auf und ging am Bach entlang. Mehrere Hummeln flogen auf der Suche nach Nektar über die Wiese. Judith dachte über die Ereignisse der vergangenen Wochen nach und hatte plötzlich Angst, dass sie ihr
Glück übermäßig strapazierte, wenn sie weiter mutig
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