Der Minnesaenger
Herrn 1182
1.
Seit sechs Jahren lebten August und die Spießgesellen von der Wegelagerei. In jeder Stadt kannten sie Händler, die ihre Beute versilberten, ohne Fragen zu stellen. Die Wälder an den Handelsstraßen waren ihnen so vertraut, dass sie Verfolger mühelos abschüttelten. Um ihr Glück nicht unnötig zu strapazieren, kampierten sie nirgends länger als zwei Tage.
An einem nebligen Oktobermorgen schälte sich August aus den Decken und knetete seine Gliedmaßen. Als er damals aus Aue verschwunden war, hatte ihn das stumpfe Einerlei angeödet. Jetzt hasste er die Rastlosigkeit und das tumbe Geschwätz seiner Kameraden so sehr, dass er manchmal mit dem Gedanken spielte, noch einmal etwas anderes anzufangen. Allerdings wusste er um die Schwierigkeiten, die ein Absetzen von der Bande mit sich bringen würde. Die Spießgesellen würden nicht eher ruhen, bis sie ihn getötet hätten. Plötzlich fühlte er sich wie ein Gefangener-verdammt zu einem Leben, aus dem es kein Entrinnen gab, gebunden an ein paar Hohlköpfe, denen jegliche Vorstellungskraft abging.
Neben ihm hustete der Neue seine Lunge frei und spuckte einen Schleimklumpen in die Feuerstelle. »He,
August! Wird langsam Zeit, dass wir uns ein paar Huren gönnen!... He, sprichst wohl nicht mit jedem, was?«
»Lass ihn!«, sagte Bengt. »Morgens ist er ungenießbar.«
Der Neue pickte sich eine Laus aus dem Schamhaar und zerknackte sie zwischen den Fingernägeln. »Ihr würdet kaum glauben, was für Geschichten über euch im Umlauf sind. Wenn ich den Leuten erzähle, dass ihr nicht mal eine Handvoll seid, dann erklären sie mich doch glatt für verrückt!«
Bengt rückte näher an ihn heran und sagte augenzwinkernd: »Hast ja Recht, aber sprich nicht so laut. Als wir in die Wälder gingen, war August noch ein anderer. Wenn wir eine Kutsche überfielen, machte er vor nichts und niemandem Halt. Aber sieh ihn dir jetzt an! Sieh nur, was aus ihm geworden ist.«
»Ja, ja«, flüsterte der Räuber. »Ich sehe es ja!«
»Mit dem ist nichts mehr los. Ich und die anderen wissen das schon seit langem, aber wir sind nicht stark genug, um ihn fertigzumachen.« Bengt befühlte den Oberarm des Neuen. »Mir scheint, dass du keine Furcht kennst. Und stark bist du auch, was?«
»Das will ich meinen!« Grob schüttelte der Neue im Bunde Bengts Hand ab und stellte sich auf die Füße. Er trat zu August, blickte herrisch zu ihm hinunter und sagte: »Der macht mir jedenfalls keine Angst. Und wenn ich nicht bald was zu pimpern kriege, dann... ach!« Er rotzte verächtlich aus und trat an einen Baum, um sich zu erleichtern. Froh über den strammen Strahl pfiff er ein Lied.
Mit einer fließenden Bewegung war August auf den Beinen und griff dem Neuen unters Kinn. Mit einem sauberen Schnitt schlitzte er ihm die Kehle auf. Ein Blutschwall
spritzte gegen die Rinde, dann sackte der Mann auf den Waldboden. Seine Augen waren weit aufgerissen, seine Lippen formten lautlos Worte und seine Füße zuckten scharrend über das Laub.
»Wurde auch Zeit«, sagte Bengt, »der Kerl hätte die Schnauze nicht halten können. Der hätte uns noch alle unter das Schwert des Scharfrichters geredet.«
August packte Bengt am Rabenhaar und riss seinen Kopf zurück. »Ist mir nicht entgangen, was du gesagt hast. Hast ihm erzählt, dass ihr einen neuen Anführer sucht.«
»Doch nur um...«
»Um was? Willst etwa du der neue Anführer sein?«
Da ertönte der Gesang einer Lerche. Einmal, zweimal und ein drittes Mal - das vereinbarte Signal. Sofort stieß August Bengts Kopf zurück und überzeugte sich, dass die Pferde angeleint waren. Durch einen Wink befahl er den Spießgesellen, die Bögen aufzugreifen und Richtung Osten zu laufen. Weil ihre überfall stets gleich abliefen, verstanden die Männer ihn sofort und schoben sich lautlos durch das Gebüsch. August hängte sich den Köcher über den Rücken und postierte sich hinter einem Baumstamm, den er schon gestern ausgekundschaftet hatte. Vorsichtig spähte er auf den Handelsweg hinab. In das Vogelgezwitscher mischte sich die Stimme eines Fuhrmanns, der in einem eintönigen Singsang seine Zugpferde antrieb: »Nicht so müde, Krummbein, auf geht’s, Fleckerl, nun lauft schon...«
August hob den Kopf. Aus der Krone einer Rotbuche machte der Spießgeselle, der die Morgenwache übernommen hatte, mehrere Handzeichen. Offenbar handelte es sich um eine geschlossen Kutsche, die von einer Eskorte
aus zwei Soldaten begleitet wurde. Lautlos gab August die
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