Der Minnesaenger
stand schon senkrecht über ihnen, als eine Gestalt durch das Tor trat. Erst als der Mann dem Steinhaus
näher kam, erkannte Agnes ihren jüngeren Sohn Hartmann.
»Ich wusste gar nicht«, sagte sie, »dass schon das nächste Herrenfest ansteht. Für Weihnachten ist es eigentlich noch zu warm.«
»Mutter«, erwiderte Hartmann. »Du weißt genau, warum ich nicht öfters kommen kann. Wenn ich ein eigenes Pferd hätte, wäre die Strecke mühelos zu bewältigen, aber zu Fuß schaffe ich es nicht zurück, bevor die Dunkelheit einbricht.«
»Jedenfalls freue ich mich, dass du da bist«, sagte Agnes und umarmte ihren Sohn. Sie begriff plötzlich, dass dieser Besuch anders war als die vorigen. Den Unterschied erfasste sie, als sie den Blick auffing, mit dem sich die jungen Leute bedachten. »Du hast sicher Hunger, mein Sohn. Ich wollte sowieso gerade Habermus kochen.«
17.
Judith blieb alleine mit Hartmann zurück. Sie konnte den Blick nicht von seinem Gesicht lösen, das immer markanter und männlicher wurde. Der Blick seiner kristallblauen Augen ging ihr durch Mark und Bein.
»Es ist schön, dich wiederzusehen«, sagte er.
»Ja, seit unserem letzten Treffen hast du viel breitere Schultern bekommen«, erwiderte sie und kam sich fürchterlich dumm vor.
»Das liegt an den Schwertübungen. Hast du Lust auf einen Spaziergang?«
»Gerne«, sagte Judith und strich sich schnell den Wollumhang glatt.
»Rechtzeitig zum Essen sind wir zurück«, rief Hartmann ins Haus und sie machten sich auf den Weg.
Judith ging neben ihm auf das Tor zu. Sie spürte seine körperliche Nähe sehr intensiv und musste an ihre letzte Begegnung denken. Auf dem Markttag in Freiburg hatte er sie in seine Arme geschlossen. Sie hatte sich so beschützt gefühlt wie noch nie zuvor in ihrem Leben... Leider musste sie auch an Bengt denken, der diesen magischen Moment verschwinden ließ, als er sich vor ihnen aufgebaut hatte. Höchstwahrscheinlich hatte er seine Drohung wahrgemacht und August von der Begegnung berichtet. Wenige Tage später hatten auch die Misshandlungen angefangen...
Plötzlich bekam Judith Angst. Obwohl sie genau wusste, wie närrisch sie sich verhielt, suchte sie den Wegesrand ab, als könnten sich August und seine Spießgesellen hinter einem der Bäume verstecken. »Erzähl mal«, sagte sie nervös und klemmte sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, »was machst du eigentlich so den ganzen Tag?«
»Ach«, erwiderte Hartmann, »du würdest nicht glauben, wie langweilig es auf der Burg zugeht...«
Im weiteren Verlauf des Gesprächs spürte Judith, wie ihre Freude über das Wiedersehen immer mehr verflog. Es kostete sie große Mühe, ihrer Stimme einen munteren Klang zu geben. Es hing nicht nur mit der Angst vor ihrem Eheherrn zusammen, sondern auch mit Hartmann. An seinem direkten Blick hatte sie sofort erkannt, dass er ihretwegen gekommen war. Sie war überglücklich gewesen, ihn wohlbehalten wiederzusehen, aber sein Erscheinen zerrte sie auch zurück in die harte Wirklichkeit. Durch den Ehebund war sie an August gebunden. Selbst wenn sie
sich ihm nicht verpflichtet fühlte und sich innerlich lossagen konnte, würden sie und Hartmann hier oder in der näheren Umgebung nicht miteinander leben können. Weder der Herzog von Zähringen noch die Bauern aus Aue würde eine solche Verbindung gutheißen. Ihnen würde nichts anderes übrigbleiben, als an einem fernen Ort zu leben, wo niemand von ihrer Vorgeschichte wusste. Und was sie dort erwartete, war völlig offen.
Seitdem sie ihren Ehemann und seine Spießgesellen näher kannte, hatte sie eine ungefähre Ahnung davon, wie viel Schlechtigkeit es in der Welt gab. Hartmann war ein junger Mann, der noch nicht viele Erfahrungen gesammelt hatte. Sie zweifelte nicht an seinem Mut, auch nicht an seiner Treue, aber sie hatte ernsthafte Bedenken, ob er der Verschlagenheit von Männern wie Bengt gewachsen war.
In Aue hatte sie mehr Leid erlebt, als sie ertragen konnte. Ein unglaublicher Glücksfall gestattete es ihr nun, sich vorerst ein Leben nach ihren Vorstellungen einzurichten. An einem fernen Ort erwartete sie die Ungewissheit und eine spätere Rückkehr nach Aue wäre ausgeschlossen, weil sie als Hure und Ehebrecherin gebrandmarkt wäre.
Ihre Angst, alles noch einmal durchzumachen, war so heftig, dass sie ihr die Kehle zuschnürte, und ihre Kleinmütigkeit machte sie so hilflos, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Trotzdem stellte sich die Entscheidung mit einer solchen
Weitere Kostenlose Bücher