Der Mitternachtsdieb: Roman
köstlich, und die Gäste waren voll des Lobes für Keiko.
„Sie haben Glück, Yamada-San." (Auf japanisch heißt San soviel wie Herr, und man hängt es an den Namen an.) „Sie haben eine sehr gute Köchin zur Frau."
„Das weiß ich", sagte der Vater stolz. „Ich muß deshalb ja auch auf mein Gewicht aufpassen."
Nach dem Essen begaben sie sich alle ins Wohnzimmer. Einer der Gäste sah sich in der Wohnung um und sagte: „Was Sie für ein Glück haben, auch noch so eine schöne Wohnung zu finden, und das hier in New York mitten in der Stadt!" Unglück, dachte Kenji.
Auch um elf Uhr zeigten die Gäste noch keine Bereitschaft aufzubrechen. Die Frauen plauderten angeregt über ihre Familien, und die Männer fachsimpelten über ihre Arbeit. Kenji sah Mitsue an und nickte ihr zu. Das war das Zeichen, mit ihrem Plan zu beginnen.
Sie begannen beide mit Absicht, um die Wette zu gähnen. Und wirklich gähnten bald auch die Gäste. Kenji und Mitsue gähnten weiter, bis sie schließlich alle damit angesteckt hatten, einschließlich ihrer Eltern.
Und endlich sagte der erste Gast: „Ich bin offenbar müder, als ich vermutete. Ich glaube, es ist Zeit aufzubrechen."
Es war halb zwölf, und es dauerte noch weitere Zeit, bis sich alle ausgiebig verabschiedet hatten. Die beiden Kinder begannen schon zu fürchten, daß die Leute auch um Mitternacht noch nicht weg sein würden. Aber um Viertel vor zwölf waren sie dann tatsächlich doch fort. „Das war ein netter Abend", sagte Mr. Yamada zu seiner Frau. „Du hast großen Eindruck mit deinen Kochkünsten gemacht."
„Oh, danke", sagte Keiko bescheiden. Es machte sie glücklich, wenn sie sah, daß ihr Ehemann stolz auf sie war.
Der Vater wandte sich an die Kinder. „Na, ihr müßt ja auch ganz schön müde sein, wie? Die ganze Zeit habt ihr gegähnt." „Ja, Vater", bestätigte Kenji eifrig. „Wir gehen auch gleich schlafen." Er gab den Eltern einen Gutenachtkuß, ebenso Mitsue, und sie gingen in ihre Zimmer.
Mr. Yamada sah ihnen nachdenklich hinterher. „Sag mal, Keiko, findest du nicht auch, daß die Kinder sich seltsam benehmen?"
„Ach, meinst du? Kann ich nicht finden. Sie sehen mir ganz normal aus."
Aber der Vater war sich nicht so sicher. „Irgend etwas geht vor", murmelte er. „Ich möchte wissen, was. Na gut, gehen wir schlafen."
Fünf Minuten vor Mitternacht schlüpfte Kenji lautlos aus seinem Bett, öffnete die Tür seines Zimmers und spähte hinaus, um sich zu vergewissern, daß die EItern in ihrem Schlafzimmer waren. Dann schlich er sich auf Zehenspitzen durch das Wohnzimmer und in Mitsues Zimmer. Seinen Fotoapparat hatte er bei sich. Er klopfte leise an.
„Komm herein", hörte er Mitsue flüstern. Er schlüpfte vorsichtig hinein. Mitsue sagte: „Sie muß jeden Augenblick kommen. Was willst du machen, wenn sie da ist?"
„Zuerst fragen wir sie nach dem Namen ihres Mörders, und
dann fotografiere ich sie, damit ich Vater etwas vorzeigen
kann. Gingen wir nur mit der Geistergeschichte zur Polizei,
würde man uns dort sicher auslachen. Aber Vater kann sie dazu
bringen, daß sie
zuhören. Er soll dann -"
Und da hörten sie es bereits.
Es begann wieder als leises Stöhnen.
Sie blickten beide wie gebannt auf die geschlossene Zimmertür, und tatsächlich kam gleich danach durch diese einfach hindurch das Geistermädchen hereingeschwebt, wie immer in ihrem weißen, aber blutbesudelten Kleid. Kenji spürte, wie ihm die Haare zu Berge standen. „Helft mir", sagte die Geistergestalt wieder.
Kenji versuchte etwas zu sagen, aber sein Mund war ganz trocken. Als er endlich ein paar Worte herausbrachte, klang seine Stimme schrill und so hoch wie bei einem Mädchen. „Ich ... wir werden dir helfen, ja", sagte er.
„Ich möchte erlöst sein", sagte das Mädchen und kam näher an das Bett heran. Kenji und Mitsue spürten, wie es kalt und feucht im Raum wurde.
Kenji hob seinen Fotoapparat und stellte ihn auf die Erscheinung ein. Er machte schnell nacheinander vier Aufnahmen. Und er dachte: jetzt habe ich meinen Beweis. Dann sah er hoch: „Sage uns den Namen des Einbrechers, der dich umgebracht hat." „Er wohnt hier im Haus."
Jetzt standen auch Mitsue die Haare zu Berge.
„Also hatte ich doch recht", rief Kenji. „Es ist -"
In diesem Augenblick dröhnte die Stimme seines Vaters dazwischen. „Was ist los bei euch da drinnen? Was stellt ihr beiden an?"
Das Geistermädchen war im nächsten Augenblick verschwunden. Kenji und Mitsue sahen sich hilflos an. Die
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