Der Mitternachtsdieb: Roman
wollte
sich auf keinen Fall anmerken lassen, wie schwer ihm die Arme schon waren.."Das schaffe ich locker de ganzen Tag." „Na ja", zog ihn sein Vater auf, „dann können wir gerne hier draußen bleiben, bis es dunkel wird."
Kenji konnte nur hoffen, daß das nicht ernst gemeint war. Er ruderte immer schleppender. Sein Vater bekam Mitleid mit ihm.
„Vielleicht sollten wir doch lieber wieder zum Ufer", sagte er. Das hörte Kenji mit Erleichterung. „Wenn du unbedingt meinst, Vater." Er ruderte zurück, und sie siegen alle aus. „Hat es Ihnen gefallen?" fragte der Bootsverleiher. „Großartig!" sagte Kenji. Aber er konnte die Arme kaum noch bewegen.
Er war so kaputt, daß er in dieser Nacht tief und absolut traumlos schlief.
Am Montagmorgen gingen die Kinder wieder zur Schule. „Können wir jetzt die Bilder holen?" sagte Mitsue. „Nein, doch erst nachmittags, hat er gesagt, das weißt du doch. Wir holen sie nach der Schule."
Kenjis Englischlehrer sagte: „Heute lernen wir also die Genuswörter. Hat irgend jemand eine Vorstellung davon, was das ist?"
Er sah sofort Kenji an. Kenji war der Intelligenteste der ganzen Klasse. Aber auch er wußte es nicht.
Der Lehrer sah sich um. Keine Hand hob sich.
„Also gut", sagte der Lehrer. „Genus ist das Geschlecht, Sex." Kenji merkte, wie er rot wurde. Und er spürte, daß ihn das Mädchen, das ihm dauernd nachlief, ansah.
„Es gibt drei Geschlechter", fuhr der Lehrer fort. „Maskulinum, Femininum und Neutrum."
Kenji fühlte sich ganz erleichtert. Sie würden also nicht wirklich über Sexualkunde sprechen.
„Natürlich wissen wir alle", sagte der Lehrer, „daß maskulin sich auf männlich und Männer bezieht. Männer sind männlich, maskulin. Frauen sind weiblich, feminin."
„Ich verstehe das mit dem Neutrum nicht", sagte Kenji. „Neutrum", erläuterte ihm der Lehrer, „ist etwas, das kein Geschlecht hat." Er faßte sein Katheder an. „Dieses Katheder hier ist ein Neutrum, sächlich. Stühle sind auch sächlich, ein Haus. Verstehst du es jetzt?" „J-aa", sagte Kenji.
„Wenn wir sagen, ein Mann geht in eines seiner Zimmer zu Hause, dann müssen wir sagen, in sein Zimmer. Eine Frau hingegen geht in ihr Zimmer. Sein und ihr müssen immer mit dem dazugehörigen Geschlecht verwendet werden."
„Und was ist das richtige Geschlecht für sächlich?" wollte Kenji wissen.
„Für einen Gegenstand, ein Ding, eine Sache, braucht man das
Wort es. Es ist ein harter Boden. Es ist ein gutes Buch. Hat das
jetzt jeder verstanden?"
Alle nickten.
Kenji hatte große Mühe, sich an diesem Tag auf die Schule zu konzentrieren. Er dachte an die Fotos von dem Geistermädchen, die er seinem Vater zeigen wollte. Er konnte es kaum noch erwarten, daß die Schule aus war. Als es endlich soweit war, traf er sich im Korridor mit seiner Schwester, und sie eilten gemeinsam davon. Draußen aber versammelten sich bereits die Baseballmannschaften auf dem Sportplatz. Als Clarence sah, wie Kenji auf die Straße hinausrannte, rief er ihm nach: „He, Kenji! Wir fangen gleich an!"
„Keine Zeit!" rief Kenji zurück. „Tut mir leid, ich muß etwas Wichtiges erledigen!"
Clarence war enttäuscht. „Na gut, dann morgen wieder." „Ja, morgen."
Sie liefen hastig zu dem Fotogeschäft. Derselbe Mann war wieder da und begrüßte sie lächelnd, als sie ganz außer Atem hereinkamen.
„Das habt ihr aber genau abgepaßt!" sagte er. „Gerade eben erst sind eure Bilder gekommen." Er reichte Kenji die Tüte. Kenji riß den Umschlag aufgeregt auf. Sie sahen die Fotos eines nach dem anderen langsam durch. Das erste war von der Freiheitsstatue, von außen, das nächste von innen im Kopf der Statue zu einem der Aussichtsfenster hinaus. Dann kamen Fotos von ihrer Fahrt auf der Fähre und von den Geschäften auf der Fifth Avenue und vom RockefeIler Center. Zwanzig Fotos von ihrem Ausflug, und eines war schöner als das andere.
Dann aber kam Kenji zum einundzwanzigsten, dem ersten vom
Geistermädchen.
Aber es war nichts darauf.
Hastig ging er zum nächsten Foto. Nichts.
Die letzten beiden. Auch nichts. Nur weiß. Nicht ein Foto mit
dem Geistermädchen.
Sie sahen sich ratlos an.
„Da muß etwas mit dem Fotoapparat nicht gestimmt haben", sagte Mitsue.
„Nein", erklärte Kenji kopfschüttelnd, „dem Fotoapparat fehlt
gar nichts."
„Du meinst…?"
„Genau. Geister kann man nicht fotografieren."
Auf dem Heimweg waren sie beide sehr niedergeschlagen. „Was machen wir jetzt?" fragte
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