Der Moderne Knigge
morgen los ist und ihn dann durch das Mittel um einen ganzen Tag verlängert haben würde.
Unter den minder unangenehmen, aber auch nicht völlig angenehmen Erscheinungen des Sommers nimmt die
Gesellschaftsreise
eine der ersten Stellen ein. Wer eine solche mitmacht, hat sie und die Folgen sich selbst zuzuschreiben, was bei einer Erkältung nicht immer der Fall zu sein pflegt.
Der Verheiratete wird eine Gesellschaftsreise leichter antreten und vollenden, als der noch ungebundene Mann, da der Gatte und Familienvater bereits daran gewöhnt ist, abhängig, nicht sein eigener Herr und an Befehle und Anordnungen gefesselt zu sein. Der moderne Knigge kann Unverheirateten nur raten, allein zu reisen und darin einen Ersatz für die Annehmlichkeiten zu finden, welche eine Gesellschaftsreise bieten kann.
Hat man sich einer Reisegesellschaft angeschlossen, ohne daß man Kartensammlerinnen und Kartensammlern das Versprechen gegeben hat, von jeder Station des Dampfers oder der Eisenbahn eine bunte Karte an sie abzusenden, so büßt man dadurch das Vergnügen ein, es zu unterlassen und nach der Heimkehr zu versichern, die Karten seien gewissenhaft abgeschickt, aber unterwegs gestohlen worden und zwar von Postbeamten, welche selbst sammeln.
Man freunde sich auf der Fahrt nicht zu sehr an, sondern begnüge sich damit, sich anzubekannteln. Es giebt Reisende mit außerordentlichem Namens- und Physiognomieen-Gedächtnis, welche ihre Begabung dadurch in das hellste Licht rücken, daß sie jeden, den sie einmal gesehen und gesprochen, nur dann, wo sie ihn treffen, nicht sofort anreden, wenn sie zufällig Geld von ihm geborgt haben. Hat man sich nun angefreundet, so hat man die Pflicht, sich glücklich zu schätzen, daß man den neuen Freund einmal wiedersieht, auch wenn man ihm nichts geborgt hat, während man sich nur einfach zu freuen braucht, wenn man einen Reisegefährten wieder trifft.
Man nehme sich unterwegs in Acht, liebenswürdig gegen die Frau eines Teilnehmers zu sein, denn es giebt Männer, welche der Treue ihrer Gattin so sicher sind, daß sie sie gern der Führerschaft eines Fremden überlassen, um selbst sich freier bewegen zu können. Ein solcher Mann ist vielleicht dieser Teilnehmer und imstande, die teure Last erst am Schluß der Reise wieder auf sich zu nehmen.
Sind einige Skatspieler in der Gesellschaft, welche sich von keiner schönen Aussicht in ihrer Partie stören lassen, so wisse man solche Leute über Gebühr zu schätzen. Sie lassen sich zwar nicht stören, aber sie stören auch nicht. Nur die Enthusiasten stören, welche außer sich sind, wenn man nicht mit ihnen alles bewundert und kein Talent hat, auf Befehl zu schwärmen.
Wenn ein Zeitungsberichterstatter die Reise mitmacht, so bitte man ihn um ein Autogramm, und wenn er sich diese Bitte nicht erklären kann und auch nicht recht weiß, was er schreiben soll, so sage man ihm auf den Kopf zu, daß er einer der besten Schriftsteller der Gegenwart sei. Dies ist ihm angenehm, weil er noch nie etwas Neueres gehört und geschrieben hat. Dafür wird man von ihm in seinem Reisebericht der liebenswürdigste Gesellschafter und geistvollste Causeur genannt, obschon man das Gegenteil zu sein pflegt. Hat man aber ganz besonderes Glück, so wird man gar nicht genannt.
Macht man eine Gesellschaftsreise zur See, so ist die
Seekrankheit
unvermeidlich. Sie hat allerdings auch ihr Unangenehmes, aber man darf nie vergessen, daß sie auf einer Gesellschaftsreise dem von ihr befallenen Teilnehmer Gelegenheit giebt, »Endlich allein!« zu sagen.
Fühlt man die Seekrankheit nahen, so bittet man die Damen, in deren Gesellschaft man in diesem Augenblick sich befindet, um die Erlaubnis, sich entfernen zu dürfen. Wartet man die Antwort zu lange ab, so gehen die Damen fort, da die Katastrophe eingetreten ist; dann kann man es sich bequem machen.
Fragt man einen älteren Seemann, ob er nicht ein sicheres Mittel gegen die Seekrankheit wisse, so bejaht er und rät, eine Cigarre zwischen die Lippen zu stecken. Solange man die Cigarre zwischen den Lippen trage und rauche, habe man die Seekrankheit nicht. Man probiere dies nur, ein anderes ebenso sicheres Mittel existiert nicht, weil es überhaupt keins giebt.
Wer jemals seekrank gewesen ist und hingestreckt die Hoffnung aufgegeben hat, jemals die Kajüte lebendig wieder zu verlassen, weiß, daß man in dieser tückischen Krankheit alle Engel im Himmel singen oder pfeifen hört. Wer also einem Feinde, der nicht musikalisch ist,
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