Der Mönch in Weimar: Ein Schauerroman nach alter Mode (German Edition)
seine Nasenflügel vibrierten. Der erste Satz fiel ihm offenkundig schwer.
„Lewis, Sie müssen wissen, dass sich ...“ Er schluckte. „Ich will es nicht hinauszögern, sondern knapp schildern, damit es ausgesprochen ist und dann schnell vergessen. In diesem Haus versuchen wir es schon seit fast einem Jahr, und doch bricht es immer wieder durch, wie auch anders ...“
„Sprechen Sie“, sagte Lewis sanft, um Böttiger Mut zu machen, dem Mann, der kaum doppelt so alt war wie er selbst und ihm doch so väterlich begegnete.
Böttiger sah ihn dankbar an. „Es war an einem Septembertag im vergangenen Jahr. Ich hatte die Stellung angenommen, die Johann Herder mir angeboten hatte. Ich fuhr mit meiner Gemahlin von meinem damaligen Rektorposten in Bautzen hier nach Weimar. Bei uns waren unsere beiden Söhne, Karl und ...“
Lewis öffnete den Mund, dann schloss er ihn, denn er ahnte, was kommen würde.
Böttigers Augen füllten sich mit Tränen. „... August. In Jena fiel der kleine August durch einen furchtbaren Unglücksfall aus dem Wagen und starb bald darauf.“ Er barg das Gesicht in den Händen. Lewis wollte erneut etwas äußern, doch bevor ihm das rechte Wort über die Lippen kam, hatte Böttiger sich wieder gefasst.
Er wischte sich übers Gesicht und sah gefasst zu Lewis her über. „Sie verstehen, warum wir diesen entsetzlichen Tag verfluchen und jegliche Erinnerung daran besonders meine Frau ins Herz trifft.“
„Ich bedaure, dass ich dies ausgelöst habe“, sagte Lewis mit ehrlichem Bedauern.
„Sie trifft keine Schuld. Sie konnten ja nicht wissen ... vielmehr muss ich Ihnen dankbar sein.“
„Wofür?“, fragte Lewis erstaunt.
„Für Ihre Anwesenheit. Seit Sie hier sind, Master Lewis, habe ich Eleonore so oft lachen hören wie seit Monaten nicht mehr. Sie ist viel heiterer. Verstehen Sie das nicht falsch, nicht, dass sie zuvor etwa immer melancholisch oder bedrückt gewesen wäre. Aber durch Sie hat sie einen neuen Enthusiasmus für alles entwickelt. Sie müssten hören, wie sie ihren Freundinnen berichtet – und selbst mir, obwohl ich Sie doch leibhaftig erlebe.“
„Das ehrt mich. Aber was gibt es denn zu berichten? England bietet nichts Besonderes und Paris, nunja. Ich persönlich finde ...“
„Genau das ist es doch! Sie sind nicht aus Weimar, nicht aus Deutschland! Sie haben den halben Kontinent bereist und dabei, Gottlob, nichts Tragisches erlebt, und all dies Abenteuerliche ist es, was meine Frau so durstig in sich aufnimmt.“
„Aber Sie sehen, was ich trotz alldem angerichtet habe ...“
„Oh, Lewis“, sagte Böttiger und legte die Arme über den Tisch, als wolle er die Hände des Engländers ergreifen und dankbar drücken. „Das war ein unglückseliger Zufall, der sich nicht wiederholen wird. Wichtig ist, dass es in diesem Haus allgemein wieder fröhlicher zugeht. Hoffen wir, dass dies besteht, solang Sie hier sind, und auch dar über hinaus. “
Lewis streckte die Hand aus und gab sie Böttiger, der heftig zudrückte. „Ich verspreche es Ihnen“, sagte Lewis. „Sofern es in meiner Macht steht.“
„Danke“, sagte Böttiger und versuchte ein aufmunterndes Lächeln, das mehr ihm selbst galt als Lewis. Dann stand er auf. „Ich möchte nach meiner Gemahlin sehen.“
Lewis nickte. „Ja, und ich nach der Muse.“
Nacheinander verließen sie den Speiseraum.
Den Abend hindurch arbeitete Lewis angespannt, auch um sich von dem abzulenken, was der Tag an Unerfreulichem geboten hatte. Während der Lektionen stahl sich immer wieder das Bild eines blutigen Tuches vor sein geistiges Auge, überlagert von dem einer jungen, blonden Frau mit blauen Augen. Als die Bilder in immer schnellerer Folge auftauchten, warf er die Schreibfeder auf die Tischplatte und rieb sich die Augen. Doch als er die Hand sinken ließ, wanderte diese wie aus eigenem Antrieb zu der Schublade, in der Lewis die ominösen Schriftstücke vom Mittag hatte verschwinden lassen. Er erinnerte sich mit Widerwillen an die wirre Schrift, die an unheimliche Kratzspuren gemahnte, und an den noch furchtbareren Inhalt.
Lewis riss die Hand zurück. Er stand eilig auf, entkleidete sich und floh in die scheinbar sichere Welt des Schlafes.
In seinen Träumen begegneten ihm die toten Söhne, von denen man ihm berichtet hatte. Zwischen gewaltigen, rotierenden Wagenrädern tauchte der kleine August Böttiger auf und winkte ihm stumm aus blinden Augen zu. Der Sohn der gespenstischen Witwe stand an Bord eines Schiffes,
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