Der Mönch in Weimar: Ein Schauerroman nach alter Mode (German Edition)
unter knatternden Segeln, die ihn bald einhüllten und ins Meer sinken ließen, tief, tief hinab. Tief, tief unten. Lewis tauchte aus seinem Traum empor, und von seiner Stirn rann der kalte Schweiß wie Seewasser, als sei der Alptraumozean über die Ufer der Realität getreten.
Draußen war dunkelste Nacht. Kein Uhrenschlag oder Nachtwächterruf war zu hören, und ob der Mond schon auf- oder bereits untergegangen war, konnte Lewis nicht erkennen. Mit einem Mal schien der Alptraum auf sein waches Gemüt stärker zu drücken als auf seinen schlafenden Geist, und so stand er auf, öffnete das Fenster und streckte den Kopf in die Nachtluft, die sein feuchtes Haar trocknen ließ und seine Stirn kühlte. Still war es und friedlich. Lewis konnte weder einen Hund noch einen Nachtvogel hören, die Finsternis schien in jeder Beziehung unbelebt. Bis auf ...
Lewis lauschte.
Er glaubte, ein schwaches Pochen zu hören oder vielmehr zu spüren. Seine Hand tastete nach seinem Herzen und erfühlte dessen Schlag, der jedoch nicht mit dem Rhythmus des Pochens übereinstimmte. Lewis reckte den Hals und horchte angestrengt. Fest auf das Fensterbrett gestützt versuchte er, die Quelle des Geräusches zu ergründen. Er wusste nicht, ob er es sich nur einbildete, aber im gleiche n Maße, wie er die Töne hörte oder zu hören glaubte, schien er sie auch zu spüren, als leiteten die Mauern sie in seine Handflächen. Lewis begann zu frieren. Durch seinen Kopf zogen Bilder von lebendig Begrabenen, die tief in der Erde ihres unabwendbaren Schicksals harrten, sich ungehört hörbar machen wollten, in dem sie mit blutigen Knöcheln gegen ihre Gefängnismauern aus Stein und Erde klopften. Mit den eigenen Knöcheln. Oder den Knochen der längst Verstorbenen. Tief, tief unten.
Lewis schüttelte den Kopf, dass die schrecklichen Gedanken mit den kalten Schweißtropfen davonspritzten, warf das Fenster zu und floh in tiefen Schlaf.
Drittes Kapitel
In welchem eine Kutsche stürzt und die Kleider fallen
B öttiger ließ es sich nicht nehmen, Lewis nach dem Mittagstisch auf den kommenden Abend vorzubereiten. Er hielt es für seine Pflicht, den, zumindest was Weimar anging, noch unerfahrenen Engländer mit all dem nötigen und unnötigen Wissen zu versorgen, um das gesellschaftliche Ereignis auf Schloss Tiefurt überstehen zu können. Beide saßen sich in Böttigers Arbeitszimmer gegenüber und konnten nicht unterschiedlicher sein: Böttigers rote Wangen strahlten im frischen, nach jeder Mahlzeit etwas feist erscheinenden Gesicht, das helle Haar war ordentlich in Wellen gelegt. Lewis hingegen wirkte ausgezehrt, und sein dunkler Schopf stand den Ringen unter seinen Augen in nichts nach. Das Mittagessen, geräuchertes Rindfleisch und Sauerkraut, das seinen Namen nach Lewis’ Geschmack wirklich und wahrhaftig verdient hatte, schien ihn nicht gestärkt, sondern noch weiter erschöpft zu haben. Er hatte dazu nur wenig weißen Wein getrunken, und er fragte sich, ob diese Menge nun zuviel oder zu gering gewesen war, um ihm zu bekommen. Während Böttiger seine Pfeife stopfte und kurz nachsann, mit welcher der illustren Personen er beginnen sollte, hockte Lewis also still und ein wenig blass auf seinem Stuhl. Er war am Morgen nach fiebrigen Träumen, die kurz vor der Dämmerung über ihn gekommen waren, aus den zerwühlten, klammen Laken gekrochen und hatte angsterfüllt den Kopf in den Händen geborgen. Auch jetzt senkte er das Kinn auf die Fäuste, während Böttiger seine Pfeife anzündete, und als Lewis vor den ersten Tabakschwaden zurückwich, um sich daraufhin wieder höflich nach vorn zu beugen, um Böttigers Ausführungen zu lauschen, fühlte er sich durch diese Bewegung an den Morgen erinnert. Er gähnte ein wenig, ohne den Mund zu öffnen ...
Er gähnte stark, um mit dem Atem die letzte Benommenheit aus seinem Kopf zu vertreiben. Während er sich auf der Bettkante vor und zurück wiegte, flogen seine Gedanken hin und her, von den Gesichten der Nacht zu der Niederschrift, die er am vorigen Tag vollbracht hatte. Scheu spähte er zum Sekretär hinüber, zu der Schublade, in der er die tintenschwangeren Blätter verborgen hatte. Mit einem Mal beschlich ihn ein Verdacht, oder vielmehr, es überkam ihn eine seltsame Idee. Was, wenn sich seine üblen Hirngespinste dort auf eine gewisse Art manifestiert hätten, greifbar geworden waren?
Lewis sprang auf, zerrte das Laken halb hinter sich her, stolperte fast und stützte sich schwer auf die
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