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Der Mönch und die Jüdin

Der Mönch und die Jüdin

Titel: Der Mönch und die Jüdin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Görden
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Gestalten waren ihm zwar aus den klassischen mythologischen Texten vertraut, aber hier wirkten sie wild und beinahe lebendig. Er sah Zentauren und Satyrn, Poseidon mit dem Dreizack, den Blitze schleudernden Zeus und andere Götter. Und üppige Göttinnen, deren Namen Konrad nicht kannte und deren sündige Nacktheit ihn schamhaft den Blick senken ließ. Im flackernden Kerzenlicht schienen sich all diese übernatürlichen, unchristlichen Wesen auf magische Weise zu bewegen und auf den Wänden zu tanzen.
    Dann öffnete Hannah eine Tür und machte eine einladende Handbewegung. Eine plötzliche Unruhe befiel Konrad und stieg ihm zu Kopf wie süßer Wein. Der Raum, den sie betraten, war hoch und groß, fast wie die Halle, wo sie am Kamin gesessen hatten. Hannah zündete mehrere Leuchter an, und Joseph ben Yehiels Bibliothek füllte sich mit Licht.
    Konrad stand sprachlos da, mit offenem Mund. Er sah Reihen von Regalen und offenen Schränken, die alle bis unter die Decke reichten. Darin befanden sich kleine und große Folianten sowie Schriftrollen in allen Umfängen und Größen. Das alles war keineswegs chaotisch gestopft und gestapelt, sondern ordentlich und systematisch aufgereiht. Im Vergleich dazu war Fulberts Bibliothek im Neuwerther Kloster ein armseliges Loch. Jetzt verstand er, warum Anselm daran nie ein gutes Haar gelassen hatte. Wie oft hatte Konrad im Skriptorium, wenn Fulbert gerade außer Sichtweite gewesen war, mit geschlossenen Augen von wirklichen Bibliotheken geträumt – Bibliotheken, in denen all die klassischen Werke, die von Bernhard von Clairvaux und den Kirchenvätern nur verächtlich am Rande erwähnt wurden, vorhanden waren, so dass Konrad sie lesen und sich eine eigene Meinung darüber bilden konnte. Bibliotheken, in denen es andere Dinge zu lesen gab als nur christliche Theologie.
    Hannah führte ihn durch dieses Refugium wie durch einen paradiesischen Garten voller besonders kostbarer exotischer Blumen. »Hier in diesem ganzen Regal hat mein Vater Reiseberichte aus allen bekannten Ländern des Erdkreises gesammelt«, sagte sie. »Dort folgen die großen Gelehrten und Philosophen unseres jüdischen Volkes. Und hier stehen die Kostbarkeiten aus dem alten Griechenland, die Euch vielleicht bekannt sind, weil sich manches davon, wie ich gehört habe, auch in den Klosterbibliotheken findet: die Schriften des Aristoteles, daneben Platon, dann Herodot, der Vater der Geschichtsschreibung, Homers gewaltige Werke Ilias und Odyssee, die Dramen von Aischylos und Sophokles, die Komödien des Menander, die berühmten Fabeln des Aisopos von Sardes.« Sie nannte diese Namen mit geradezu religiöser Ehrfurcht.
    »Und hier sind viele Bücher aus römischer Zeit«, fuhr sie fort, während sie mit Konrad am nächsten Regal entlangging. »Ciceros Reden und philosophische Schriften, die Naturgeschichte des Plinius, einige historische Werke des Griechen Plutarch, Seneca, die Selbstbetrachtungen des römischen Kaisers Marcus Aurelius, die bei den Römern sehr beliebten Komödien des Plautus, die Aeneis des Vergilius, die Liebeslieder und Satiren des Horatius, und …«
    Sie kamen zu einem wundervollen kleinen Pergamentband am Ende des Regals. »… das ist mir besonders teuer. Mein Vater hat es mir gerade erst geschenkt. Das sind die Amores, die Liebesverse des großen römischen Dichters Ovid.« Sie senkte verlegen den Blick, und Konrad glaubte zu bemerken, dass sie errötete.
    Er war immer noch sprachlos. Ihn überkam ein heftiger Wunsch, in diesem Paradies aus Büchern Tage, ja, vielleicht sogar Wochen zuzubringen. Er wollte lesen, lesen, lesen … Und inmitten von alledem war da diese betörend schöne Frau, die von der Literatur ebenso gefesselt zu sein schien wie er selbst. Was war nur plötzlich mit seinen Knien los? Der Boden unter ihm schien zu schwanken. »Ich … muss mich einen Moment hinsetzen«, stöhnte er.
    »Oh«, sagte Hannah besorgt und führte ihn zu einer Fensternische. Dort standen einander zwei mit Schafsfellen gepolsterte Holzbänke gegenüber und dazwischen ein stabiler Tisch, der auch schwere Folianten zu tragen vermochte. »Soll ich Euch einen Becher Wasser holen?«
    »Nein, es geht schon wieder«, sagte Konrad, als er sich gesetzt hatte. »Es ist nur … die Bibliothek Eures Vaters ist … überwältigend. Noch nie habe ich etwas Derartiges gesehen. Und noch überwältigender …« Er brach rasch ab, ehe ihm etwas Unpassendes oder Ungehöriges über die Lippen rutschen konnte. Doch am

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