Der Mönch und die Jüdin
aber mit den Achseln.
Hannah drehte sich noch einmal um und blickte zum Haus zurück. Sie sah auf den Hof mit dem plätschernden Brunnen und auf die Fenster der Bibliothek oben im ersten Stock. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie musste an all die Schätze denken, die dort oben lagen. Ihr ganzer Körper spannte sich an, es war ihr, als müsste etwas in ihr zerspringen. Und dann rannte sie los.
»Hannah!«, rief Konrad hinter ihr.
Sie hörte, wie Joseph sagte: »Ich weiß, was sie holt. Komm, wir gehen vor. Sie schafft das allein.«
Ihre Schritte hallten durch das leere Haus, als sie die Treppe hinaufhastete. Sie fühlte, dass nichts davon mehr da sein würde, wenn sie jemals zurückkehrte. Sie stieß die Tür auf, und es war ihr, als fülle schon Brandgeruch die Bibliothek. Sie ahnte, dass all dies ein Raub der Flammen werden und das Paradies ihrer Kindheit für immer zerstört werden würde. Da stand es. Sie umfasste das kleine Buch mit beiden Händen, rannte die Stufen hinunter und aus dem Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Sie holte Konrad und ihren Vater ein, als diese gerade den Platz erreichten. Keuchend blieb sie neben den beiden stehen und sah Konrads erleichterten Blick. Fast die ganze Gemeinde schien auf dem Platz versammelt zu sein. Während Hannah wieder zu Atem kam, hielt der Rabbiner eine kurze Ansprache. Er erklärte, wohin sie ziehen würden, dass die Ritter des Erzbischofs gleich eintreffen und ihren Rücken sichern würden. Denjenigen, die sich zum Bleiben entschlossen hatten, wünschte er Glück und Jahwes Segen. Das Schrecklichste, was Hannah sich je hatte vorstellen können, geschah so einfach, als wäre es selbstverständlich. Und es kam noch schlimmer.
»Es ist Zeit, Abschied zu nehmen, Hannah«, sagte Joseph.
»Ja, Vater, ich weiß, es ist schwer, das alles zurückzulassen – die Bibliothek vor allem. Aber es muss sein. Kommt, die Zeit drängt! Lasst uns auf den Wagen steigen.«
»Du verstehst nicht, mein Kind. Ich werde nicht mit euch kommen. Ich bleibe hier.«
»Aber, Vater …«
Er umarmte sie.
»Vater, du … darfst uns jetzt nicht alleinlassen. Du musst mitkommen! Wir fangen gemeinsam wieder neu an.«
Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. »Dafür bin ich zu alt und zu müde. Du wirst neu anfangen. Ich habe dir alles beigebracht, was ich in meinem Leben gelernt habe. Meine Reise ist bald zu Ende, aber deine fängt gerade erst an. Behalte mich in guter Erinnerung. Möge Jahwe dich beschützen.«
»Was ist, Base? Worauf wartest du? Er hat sich entschieden.« Das war Benjamin, ihr Vetter, der sie rau bei den Schultern fasste. »Los! Auf den Wagen!«
»Vater! Ich bleibe bei dir! Ich lasse dich nicht allein!«
Doch Joseph sagte nur leise: »Lebe wohl, Hannah.«
Benjamin und sein Bruder David packten Hannah und hoben sie auf den wartenden Wagen. Sie schrie. Das Buch glitt ihr aus den Händen und fiel in den Straßenstaub.
Oben wurde Hannah von starken Armen in Empfang genommen und auf den harten Holzboden gesetzt, eingezwängt zwischen Rebekka und Ruth. Der Wagen rollte sofort los.
Josephs Gesicht war tränenüberströmt, als er dort auf dem Platz vor der Synagoge zurückblieb. Aber er stand aufrecht, bewahrte seine Würde. Für einen Moment hatte Hannah das Gefühl, Joseph sei von einem besonderen Licht umgeben, als würde seine Seele sichtbar in ihrer ganzen Weisheit und Schönheit. So behielt Hannah ihren Vater in Erinnerung.
Sie barg ihr Gesicht in den Händen und weinte.
***
Konrad sah den unendlichen Schmerz auf Hannahs Gesicht, als die beiden jungen Männer sie auf den Wagen hoben. Er wäre so gerne zu ihr hinaufgesprungen, aber dort oben gab es keinen Platz mehr. Außerdem waren die Wagen den Frauen und Kindern der reichen Leute sowie den Alten und Kranken vorbehalten. Joseph ben Yehiel nickte Konrad und Gilbert noch ein letztes Mal zu, drehte sich dann um und ging langsam zu seinem Haus zurück. Konrad wollte ihm nachlaufen, ihn umstimmen. Vielleicht ließ sich ein Pferd für Joseph organisieren, auf dem er reiten konnte. Aber Gilbert hielt Konrad zurück. »Lass ihn«, sagte er. »Er hat seine Entscheidung getroffen. Das sollten wir respektieren. Lass ihn seinen eigenen Weg gehen.«
Der Wagen mit Hannah rollte davon. Konrad konnte sie kaum erkennen, so dicht war sie zwischen den anderen Leuten eingezwängt. Dann sah er das Buch auf der Straße liegen. Er bückte sich und hob es auf – Amores von Ovid. Er würde es für sie
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