Der Mönch und die Jüdin
Schatz des Wissens, den er ihr vermittelt hatte, weiterzutragen und fruchtbar zu machen.
Hannah fühlte, wie verletzt sie innerlich war, doch trotz allem war sie jetzt wieder wach und konzentriert und beobachtete aufmerksam, was um sie herum vorging. Lernen, wissen, verstehen – diese Geisteshaltung war Josephs Vermächtnis, und Hannah würde diesen Weg der Gelehrten und Philosophen gehen, solange sie lebte.
Sie sah, dass unten in der Gasse viele alte Leute gingen, die nur mühsam vorankamen. Manche fielen immer weiter zurück. Auf dem Wagen saßen die Frauen aus der Gasse der Reichen, wo auch die Häuser ihres Vaters und Onkel Nathans standen. Da waren einige, die junge, gesunde Beine hatten. »Komm, Schwester«, sagte sie zu Rebekka. »Es ist nicht recht, dass wir hier oben sitzen, während die armen alten Frauen dort laufen müssen.«
So sprangen die beiden vom Wagen, und ein paar andere jungen Frauen taten es ihnen nach. Dafür halfen sie einigen alten Leuten hinauf, die sehr dankbar waren. Onkel Nathan drehte sich auf dem Kutschbock um und warf ihnen einen bösen Blick zu, sagte aber nichts – wohl auch, weil seine Söhne nicht in der Nähe waren. David und Benjamin gingen mit ihrem Gesinde, dem sich auch Josephs Diener Aaron angeschlossen hatte, ein ganzes Stück weiter vorn.
Hannah fiel auf, dass Simon nirgendwo zu entdecken war. Als sie Rebekka nach ihm fragte, antwortete ihre Schwester: »Vorhin, ehe der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, wollte er kurz nach seiner Familie schauen. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
Sie näherten sich dem Rhein. Inzwischen stand die Sonne schon tief im Westen. Bald würde es dunkel werden. »Oh, wie furchtbar!«, stöhnte Rebekka und umklammerte Hannahs Arm. »Sieh nur!«
An einer Stelle, wo zwei andere Gassen in die Hauptgasse einmündeten, befand sich ein kleiner Platz mit einer Linde. Neben der Linde lag ein großer, umgestürzter Pferdewagen. Entsetzt sah Hannah, dass es sich um den prunkvollen Reisewagen des Salomon ben Isaak handelte. Seine bewaffneten Diener hatten sich um den Wagen geschart, hatten aber den Angreifern offenbar nicht standhalten können. Sie lagen grausam hingeschlachtet in ihrem Blut. Salomon selbst, dieser trotz seiner Leibesfülle edle und wohlgestaltete Mensch, lag mit durchgeschnittener Kehle unmittelbar neben dem Wagen. Hannah schossen die Tränen in die Augen. Entsetzt wandte sie sich ab. Rebekka zog sie mit sich. »Komm, wir müssen weiter!«
Zu spät, dachte Hannah, er ist zu spät aufgebrochen und in die Hände irgendeiner hasserfüllten Bande geraten. Hätte ich ihm nur früher den Schmetterling bringen lassen, dann wäre er jetzt unbeschadet auf dem Rückweg nach Speyer. Dann straffte sie sich und wischte die Tränen weg. Mit grimmiger Entschlossenheit richtete sie ihre Gedanken auf das, was vor ihnen lag. Sie trug die Verantwortung für Rebekka, Ruth und für Josephs Vermächtnis. Als sie daran dachte, dass sie vielleicht auch Verantwortung für eine gemeinsame Zukunft mit Konrad trug, wurde ihr wieder etwas leichter ums Herz.
***
Irgendwann bemerkte Konrad erschrocken, dass er Hannah aus den Augen verloren hatte. Der Zug der Juden kam nun am Rheinufer zum Stehen. Konrad und Gilbert waren bei den Rittern, welche die Nachhut bildeten. Bisher folgte ihnen aus Richtung des Judenviertels niemand. Der Pöbel schien sich im Viertel selbst auszutoben. Von dort hörte man Geschrei und Waffengeklirr, und erste Rauchsäulen stiegen in den Abendhimmel, rotgefärbt von der sinkenden Sonne.
Es gab drei große Fähren, die zwischen Köln und Deutz verkehrten. Diese Fähren wurden nun mit Menschen und Wagen beladen. Konrad schätzte, dass sich über dreihundert Juden am Ufer drängten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass alle diese Menschen mitsamt ihren Wagen auf die drei Fähren passen würden, obgleich diese Schiffe groß waren wie Koggen. Krampfhaft hielt er nach Hannah Ausschau. Er hatte noch gesehen, wie sie und ihre Schwester von dem Wagen heruntergestiegen waren, ehe sie an dem grausig ermordeten reichen Juden vorbeigekommen waren. Doch dann waren sie und der Wagen in dem dichten Gedränge am Kai untergetaucht.
Anselm ritt herbei, blieb einen Moment bei ihnen stehen und berichtete: »Ein Trupp mit Keulen und Äxten bewaffneter Kerle, angeführt von zwei Mönchen aus Radulfs Bande, marschiert rheinaufwärts heran. Wir werfen uns ihnen entgegen. Seht zu, dass ihr auf eine der Fähren kommt! Wir treffen uns spätestens am
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