Der Mönch und die Jüdin
bewusst, wenn ich das Antlitz der schönsten aller Töchter sehe!« Wenn ihr Vater zu ihr sagte, dass sie schön sei, glaubte Hannah es beinahe, obgleich sie wie die meisten Frauen nahezu täglich an ihrem Äußeren zweifelte.
Bereits damals hatte Joseph mit seiner Tochter über das Schicksal des jüdischen Volkes gesprochen. Wie er sagte, hätte er gern mit jenen ersten Juden getauscht, die vor über achthundert Jahren nach Köln gekommen waren. In der damaligen Blütezeit war die Stadt reich an prächtigen römischen Gebäuden gewesen. Vor allem von der antiken Badekultur und den großen Römerthermen schwärmte Joseph oft. Nun schrieb man das Jahr des Herrn 1146, die Christen jedenfalls. Für die Juden war es das Jahr 4907, denn ihre Zeitzählung beginnt damit, dass Jahwe die Welt erschuf, was nach Berechnungen des ehrwürdigen Patriarchen Hillel genau 3.761 Jahre vor Christi Geburt stattgefunden hatte. Und die Kölner wuschen sich in diesem Jahr des Herrn nicht in prächtigen Badehäusern, die über oberirdische Leitungen mit frischem Nass aus der Eifel gespeist wurden, sondern mussten ihr Wasser mühsam vom Fluss heranschleppen oder aus unreinen städtischen Brunnen entnehmen.
Zum Glück blieb das Hannah und ihrer Familie erspart. Denn Joseph hatte mit großem Aufwand einen besonders tiefen Brunnen graben lassen, der bis zu jener Grundwasserschicht reichte, in die ständig frisches Wasser vom Rhein einsickerte. Dieses Wasser war viel sauberer als bei den meisten anderen Brunnen in der Stadt. Hannah hatte es ihr ganzes Leben lang getrunken, und sie und ihre Schwester waren noch nie von dem schrecklichen Bauchfieber geplagt worden, das bei den Leuten, die schlechtes Wasser trinken mussten, oft grassierte.
Abgesehen von dem Brunnen unterschied sich das Haus, in dem Hannah aufgewachsen war, auch sonst von allen anderen Häusern im jüdischen Viertel. Es war im Gegensatz zu den meisten anderen ganz aus Stein erbaut und Ausdruck der Liebe ihres Vaters zur antiken Welt. Ganz nach römischem Vorbild gab es einen von einem Säulengang umrahmten Hof, mit einem vom eigenen Tiefbrunnen gespeisten Teich und duftenden Rosensträuchern. Im hinteren Teil des Grundstücks lag neben dem Haupthaus und dem etwas kleineren Kontor- und Lagerhaus ein wunderschöner Obstgarten mit Pflaumen- und Apfelbäumen, die Joseph liebevoll hegte und pflegte. »Obst erhält uns gesund und ist der Schlüssel zum Paradies«, sagte er oft.
Im Wohnhaus gab es ein Wunderwerk altrömischer Technik, dessen sich in diesen finsteren Zeiten nicht einmal hochgestellte Herren rühmen konnten: ein echtes Hypokaustum, eine Fußbodenheizung, die, von den Dienern mit Holz befeuert, im Winter für wohlige Wärme in den Wohnräumen sorgte.
Doch ungeachtet all der Annehmlichkeiten, die dieser Wohnsitz Josephs Familie bot, schlug das Herz von Josephs Haus nicht in der nach antiker Art mit Säulen und Wandmalereien dekorierten Halle mit dem großen Kamin, vor dem der Hausherr gerne seine Geschäftspartner empfing, nicht in den privaten Gemächern und auch nicht in der Küche oder im Kontor.
Das Herz des Hauses war Joseph ben Yehiels Bibliothek.
Dort saß Hannah inmitten des unvergleichlichen Duftgemischs aus Pergament, Papyrus, Leder und alter Tinte, das sie ihre ganze Kindheit und Jugend hindurch begleitet hatte. Sie war sicher, hier die aufregendsten Stunden ihres noch nicht sehr langen Lebens verbracht zu haben.
Am Anfang, als ihr Vater entdeckt hatte, dass Hannah im Gegensatz zu ihrer Schwester für die Magie der Buchstaben empfänglich war, hatte er ihr nur vorgelesen und ihr vieles über die Geschichte der einzelnen Bände und Textrollen erzählt. Vor drei Jahren hatte er dann von einer Handelsreise nach Byzanz neue Bücher mitgebracht – und außerdem Synesios. Synesios war ein aus Athen stammender, grauhaariger Grieche, in dessen Kopf mehr Wissen gespeichert zu sein schien als in allen Büchern in Josephs eindrucksvoller Bibliothek. So hatte Joseph beschlossen, Synesios als Hauslehrer für Hannah mit nach Köln zu nehmen.
Und Hannah hatte all dieses spätantike Wissen getrunken wie süßen Wein. Ihre Mutter hatte den Kopf geschüttelt und ihr Onkel Nathan mit Joseph geschimpft, dass er Hannah verwöhne und verziehe, doch Joseph hatte nur gelächelt. Es machte Hannah glücklich, zu lernen, und war seine Tochter glücklich, war es Joseph auch.
Vor ungefähr einem Dreivierteljahr hatte Synesios Hannah Lebewohl gesagt. »Ich habe dir alles beigebracht,
Weitere Kostenlose Bücher