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Der Mönch und die Jüdin

Der Mönch und die Jüdin

Titel: Der Mönch und die Jüdin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Görden
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was du von mir lernen kannst«, hatten seine Abschiedsworte gelautet. »Ich habe dir die Grundlagen vermittelt, das Fundament, von dem aus du auf eigene Faust weiterforschen kannst. Jetzt will ich noch einmal Alexandria und Konstantinopel sehen, ehe ich sterbe. Und dann will ich die letzten Lebensjahre in meiner Heimat Athen verbringen, der alten Stadt der Philosophen.«
    Er hatte versprochen, ihr zu schreiben. Und Hannah hatte versprochen, ihn eines Tages in Athen zu besuchen.
    Jetzt stand Hannah in der Bibliothek am Lesepult. Sonnenlicht fiel vom Hof auf das von Kapitän Helmbrecht besorgte Buch, das Joseph ihr am Morgen sichtlich vergnügt geschenkt hatte, amüsiert ihr Gesicht betrachtend, als sie es auspackte. Amores , die Liebesgedichte von Ovid. Hannah wusste, dass der berühmte römische Poet einst wegen seiner angeblich die Moral der Jugend gefährdenden Schriften vom sittenstrengen Kaiser Augustus ins Exil ans Schwarze Meer verbannt worden war.
    Und deshalb hatte Joseph Hannah augenzwinkernd zugeflüstert: »Sag deiner Mutter nicht, dass ich dir dieses Buch besorgt habe. Ich finde, es wird Zeit, dass du dir einen Mann suchst. Und zwar einen, der nicht nur deine Schönheit, sondern auch deinen Verstand zu schätzen weiß. Synesios war ein ziemlich teurer Spaß. Ich habe dir diese auf zwei Beinen umherwandelnde, fleischgewordene alexandrinische Bibliothek nicht bezahlt, damit du dich später in irgendeinem Rabbinerhaushalt zu Tode langweilst.«
    Hannahs Finger glitten sanft über das in edles Leder gebundene Pergament. Die Nachmittagssonne fiel durch die Glasfenster – solche mit Butzenscheiben verglasten Fenster waren in Köln ein rarer Luxus, aber was war es für eine Freude, bei Tageslicht lesen zu können! In den meisten Häusern war es immer dämmrig, denn die Fenster waren mit Tierhäuten oder geölter Leinwand bespannt. In Josephs Bibliothek aber ließ das Sonnenlicht die feinen Tintenlinien der Handschrift aufleuchten. Der Schreiber war offensichtlich ein wahrer Künstler.
    Das Kopieren antiker Texte war längst nicht mehr nur dem Klerus vorbehalten oder den arabischen und jüdischen Schriftgelehrten. In den großen Städten gab es weltliche Kopisten, Kunsthandwerker, die für wohlhabende Bürger und Adlige Kopien auf Bestellung anfertigten. Und Joseph war ein Meister darin, jedes Buch zu beschaffen, das er für wert erachtete, seiner Bibliothek einverleibt zu werden. Manchmal beschlich Hannah der Verdacht, dass Josephs viele Kaufmannsreisen gar nicht in erster Linie dem Handel gedient hatten, sondern nur ein Vorwand gewesen waren, um seiner literarischen Sammelleidenschaft zu frönen. Das war auch einer von Onkel Nathans Hauptvorwürfen, wegen dem die beiden Brüder immer wieder in Streit gerieten: Joseph sei viel zu sehr Schöngeist und viel zu wenig nüchterner Geschäftsmann. Aber gerade dafür liebte Hannah ihren Vater so!
    Onkel Nathan dagegen hatte nur Sinn für Schilling und Pfund und die stocksteife Einhaltung jüdischer Traditionen. Und Nathans Söhne David und Benjamin, beide etwas älter als Hannah, waren auf dem besten Weg, genau solche engherzigen und boshaften Geizkragen zu werden wie ihr Vater. Hannah machte jedenfalls nach Möglichkeit einen großen Bogen um ihre beiden Vettern.
    Hannah wandte sich wieder Ovid zu. Mit dem schlanken Zeigefinger die Zeilen entlangfahrend, las sie leise:
    Ecce, Corinna venu tunica velata recincta,
candida dividua colla tegente coma.
Ut stetit ante oculos posito velamine nostros,
in toto nusquam corpore menda fuit:
quos umeros, quales vidi tetigique lacertos! { * }
    Hannah seufzte und schloss einen Moment die Augen. Wie sehr sehnte sie sich danach, von einem Mann so berührt zu werden, wie Ovid vor über tausend Jahren seine angebetete Corinna liebkost hatte! Die Sehnsüchte der Frauen hatten sich seither bestimmt nicht geändert, und die Wünsche der Männer ebenso wenig. Wenn sie die Augen schloss und sich Tagträumen hingab, sah Hannah ihren künftigen Geliebten und Gefährten manchmal vor sich, als würde sie ihn schon ewig kennen. Kein dummer breitschultriger Recke sollte es sein. Sie mochte die Ritter nicht, die sich ständig der Kraft ihrer Schwerter rühmten, während in ihren Köpfen langweilige Leere herrschte. Und, bitte, kein Rabbiner, für den seine Synagoge die ganze Welt war!
    Hannah träumte von einem empfindsamen Mann mit einem offenen Herzen. Einem Mann, der so feinfühlig war, dass er Freude daran hatte, sie am ganzen Körper zu

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