Der Mönch und die Jüdin
sagte Matthäus und machte ein Gesicht, als könnte ihn jeden Moment ein scheußliches Seeungeheuer verschlingen. »Was für eine weite und gefährliche Reise! Und eine so große Stadt wie London ist bestimmt ein arges Sündenbabel. Kein guter Ort für einen frommen Mönch.«
»Bleibt Ihr nur schön hier in Eurem gemütlichen Kloster, Matthäus«, entgegnete Anselm. »Da seid Ihr von sündigen Versuchungen weit entfernt.« Dann schwieg er, starrte ins Feuer und tat, als hätte er ihre Anwesenheit vergessen.
Konrad folgte Matthäus nach draußen und schloss leise die Tür hinter sich. Matthäus schüttelte den Kopf und sagte: »Weißt du, Konrad, ich verstehe gar nicht, was der Erzbischof sich dabei gedacht hat, dass deine erste wirkliche Reise ausgerechnet zur Wolkenburg führen soll! Das ist ein böser, verwunschener Ort, nach allem, was ich gehört habe. Bestimmt nicht gut für einen jungen Novizen wie dich! Ich verstehe auch nicht, warum unser neuer Abt ausgerechnet dort zu Besuch weilt. Wieso hat der Erzbischof ihn nicht von Köln aus gleich zu uns geschickt? Nun, aber was bleibt uns kleinen Leuten übrig, als die Befehle der hohen Herren auszuführen? Wir können nichts weiter tun, als auf Gottes Weisheit vertrauen.«
Köln. London. Paris. Konrad wusste über diese Städte nur das wenige, was er von den älteren Mönchen aufgeschnappt hatte. Für einen Moment sah er sich durch die Tore einer großen Stadt schreiten, sah das bunte Gewimmel der Menschen, sah Gotteshäuser von gewaltiger Größe und Pracht. Ach, nein, sagte er sich, ich werde all das wohl niemals zu Gesicht bekommen. Mir ist ein Leben im Kloster bestimmt. Bald werde ich die Profess ablegen und mich für den Rest meiner Tage in Demut den Aufgaben im Skriptorium und dem Klostergarten widmen.
Erst jetzt merkte er, dass er wieder einmal seinen Gedanken nachhing und Matthäus gar nicht richtig zuhörte, der nervös aufzählte, was sie vor der Abreise noch alles erledigen mussten.
D AS H ERZ VON J OSEPH BEN Y EHIELS H AUS
H annah fand, dass ihr Vaterhaus vom Geist der Harmonie beseelt war, nach der Joseph ben Yehiel fast sein ganzes Leben strebte. Hannahs Vater hatte schon öfter zu ihr gesagt, diese Harmonie sei nicht nur beschränkt auf ein Volk, das sie ganz für sich allein beanspruchen könne. Vielmehr gebe es ein Streben nach Schönheit und harmonischer Gestaltung, das – von einigen wenigen ›nichtsnutzigen Raufbolden‹, wie er zu sagen pflegte, abgesehen – allen Menschen gemeinsam sei und zwischen Juden, Christen, Sarazenen und asiatischen wie afrikanischen Heiden verbindend und Frieden stiftend wirken könne. »Wir müssen Schönheit finden, Schönheit schützen und selbst Schönheit erschaffen«, sagte Joseph oft. »Denn Schönheit ist ein Geschenk, ein Heilmittel gegen Hass und Gewalt.«
»Aber was ist schön, Vater?«, hatte Hannah ihn einmal gefragt.
Da hatte er gelacht und sich dann mit funkelnden Augen über den Bart gestrichen. »Selbst die größten Dichter tun sich schwer, dafür angemessene Worte zu finden, Tochter. Die ganze Dichtkunst ist eine ständige Suche nach den richtigen Worten, um die Schönheit von Jahwes Schöpfung zu preisen. Alles, was unser Auge erfreut und in unserem Herzen die Liebe weckt, ist schön, nehme ich an.« Immer noch verschmitzt lächelnd, zuckte er mit den Achseln. »Aber frage mich lieber in zehn Jahren noch einmal. Vielleicht kann ich dir dann mehr sagen.«
Doch nachdem eine Stunde verstrichen war, kam er bereits wieder zu ihr und sagte: »Ich habe noch ein wenig über deine Frage nachgedacht, Hannah. Wenn du dich auf die Suche nach der Schönheit begibst, wirst du gewiss bei den Werken der Menschen beginnen. Den besten Arbeiten der großen Meister – in der Architektur, in der Dichtung oder der Kunst der Goldschmiede und Juweliere – wohnt eine besondere Harmonie inne. Das ist schwer zu beschreiben, aber man spürt es einfach, wenn man die Dinge genauer betrachtet. Und wenn du deinen Horizont erweiterst, wirst du feststellen, dass die schönsten Werke der Menschen nur ein Abglanz der Kunst des Schöpfers sind. Jahwe ist unübertrefflich in allem, was er geschaffen hat – sei es ein Spatz auf dem Dach oder nur ein kleiner Käfer auf dem Mist. Übrigens sind gerade Jahwes kleinste Schöpfungen von einer so klugen … sagen wir einmal, Pfiffigkeit, dass sich kein Goldschmied der Welt daran messen könnte. Und doch ist der Mensch Jahwes größtes Werk. Das wird mir jedes Mal besonders
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