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Der Mönch und die Jüdin

Der Mönch und die Jüdin

Titel: Der Mönch und die Jüdin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Görden
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einem drittklassigen Kloster zu werden, wo es so aufregend zugeht wie in einem Schafstall!«
    Konrads Herz begann aufgeregt zu klopfen. Seine Herkunft. »Was wisst Ihr darüber, woher ich komme? Und warum zweifelhaft?« Er selbst wusste nur eines: dass sich, als er sechs war, die Pforten des Klosters hinter ihm geschlossen hatten. Doch an die Zeit davor fehlte ihm jede Erinnerung. Da waren nur Nebel, Dunkelheit – und die ständig wiederkehrenden rätselhaften Träume …
    Abt Balduin, Matthäus und der alte Prior, der im vorigen Jahr gestorben war, hatten ihm immer nur erzählt, dass er ein Findelkind sei und sie nicht wüssten, wer ihn damals vor der Tür des Klosters ausgesetzt habe. Doch manchmal beschlich ihn der Verdacht, dass sie doch mehr wussten, als sie zugeben wollten. Wenn er dann nachbohrte, hatten sie darauf meist mit einer wütenden Zurechtweisung reagiert oder seufzend geantwortet: »Hab Geduld, zu gegebener Zeit wird sich das Rätsel deiner Herkunft aufklären.«
    Matthäus seufzte, schwieg aber, und Anselm zuckte mit den Achseln. »Da ich nicht wie ein Schlafwandler durch die Gegend laufe, weiß ich so manches«, sagte er und zerbiss knackend eine Nuss. »Mit ›zweifelhaft‹ meine ich, dass das, was man nicht weiß, manchmal Anlass zu ungesunden Zweifeln gibt – Selbstzweifeln, zum Beispiel. Ich finde aber, dass es nicht auf die Vergangenheit oder die Herkunft eines Menschen ankommt, sondern darauf, was er mit seiner Gegenwart anfängt.«
    Konrad musste sich eingestehen, dass Anselms Bemerkungen ihre Wirkung nicht verfehlten. Er fragte sich, ob er wirklich so leben wollte wie Matthäus – jahraus, jahrein in Küche und Kräutergarten zu arbeiten. Genügte ihm das? Würde die kleine Welt des Klosters ihm nicht irgendwann zu klein werden wie ein Novizenmantel, aus dem er herausgewachsen war? Das Kloster war ein Ort, wo das ganze Leben nur um zwei Dinge kreiste: beten und Gott durch harte Arbeit dienen – würde er sich dort wirklich sein ganzes Leben lang heimisch fühlen?
    Bei Matthäus fühlte er sich heimisch, aber das lag an dem Koch selbst, an seinem gütigen Wesen, nicht am Klosterleben an sich. Und im Skriptorium fühlte er sich ebenfalls heimisch, aber das lag am Zauber der Buchstaben, an der geheimnisvollen Faszination des geschriebenen Worts, und irgendwie auch am frommen Fulbert, der bei aller Strenge immer ein gerechter, anständiger Lehrer und Erzieher gewesen war.
    Manchmal träumte Konrad aber von Bibliotheken, die viel größer und reicher bestückt waren. Er wusste von den älteren Mönchen, dass solche Bibliotheken existierten, in Klöstern wie Sankt Gallen, aber auch in den großen Städten wie Rom und Paris – Bibliotheken, in denen das ganze Wissen der Welt über die Jahrhunderte hinweg bewahrt worden war. Jederzeit konnte dieses Wissen dort zum Leben erweckt werden, indem man eine Schriftrolle oder einen Folianten öffnete, mit dem Finger an den Buchstabenzeilen entlangfuhr und laut die uralten Worte vorlas, so dass im eigenen Kopf die Stimmen der Autoren lebendig wurden.
    Anselm stand auf. »Los! Kommt jetzt!« Mit einem schrägen Blick auf Matthäus fügte er hinzu: »Wenn wir in diesem Tempo weitermarschieren, werden wir in einer Woche noch nicht auf der Wolkenburg sein.«
    »Ihr übertreibt!«, protestierte Matthäus. »Ich finde, für einen Mann meines Leibesumfanges schlage ich mich recht ordentlich!«
    Längere Zeit marschierten sie schweigend nebeneinander her. Da waren nur das Hufgeklapper von Anselms Pferd, die Schritte dreier Fußpaare auf dem staubigen Lehm der Straße und das sanfte, wogende Rauschen des Windes. Dann drang ein anderes Geräusch an Konrads Ohr, leise und von fern zunächst, aber schnell näher kommend – hohe, wehmütig klagende Rufe.
    Er blieb stehen, hob den Kopf und schaute nach Süden. Eine milchige Wolkendecke war heraufgezogen und hatte den blauen Himmel größtenteils bedeckt. Vor den grauweißen Wolken zeichneten sich hoch oben die schwarzen Silhouetten großer Vögel mit langen schlanken Hälsen ab. Ihre Rufe erfüllten die Luft, hallten weit übers Land wie ein sehnsüchtiger Gesang.
    Aufgeregt zeigte Konrad zum Himmel. »Kraniche!«, rief er. »Kraniche auf dem Weg nach Norden! Seht nur!«
    Jedes Mal, wenn im Frühjahr und im Herbst die großen Kranichschwärme über ihn hinwegzogen, ergriff eine tiefe, rätselhafte Sehnsucht Konrads Herz. Seit Jahren war das so. Wenn die Kraniche erschienen, ließ er im Kloster alles stehen und

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