Der Mönch und die Jüdin
liegen und rannte hinaus in den Hof, um das Wunder zu bestaunen. Dann fragte er sich, wie es wohl in jenen Ländern im Norden aussah, wo die Kraniche den Sommer verbrachten, und in den Ländern im Süden, wo sie überwinterten. Und ob er selbst diese fernen Länder je zu Gesicht bekommen würde.
Er schaute den Kranichen nach, bis das große, geheimnisvolle V, das die Vögel in den Himmel zeichneten, hinter dem nördlichen Horizont verschwunden war.
Auch Anselm und Matthäus waren stehen geblieben und hatten das Schauspiel verfolgt. Matthäus lächelte kopfschüttelnd. »Wenn draußen die Rufe der Kraniche ertönten, ist er früher einfach aus der Küche gerannt, egal, womit er gerade beschäftigt war.«
Anselm wandte sich Konrad zu und sagte: »Manche Leute meinen, dass sie verkleidete Engel sind. Himmlische Boten Gottes. Aber was wir mit der Botschaft anfangen, die sie uns zurufen, liegt natürlich an jedem von uns selbst.«
Ihr Reisenden am Himmel, dachte Konrad, warum berührt es mich so, wenn ich euch vorüberziehen sehe? Ist es Gottes Wille für mich, dass ich das Leben eines Zugvogels führen und in fremde Länder reisen soll? Er schaute auf den Rhein, der sich durch die hügelige Landschaft wand wie eine gewaltige, silbern schimmernde Schlange. Weit weg, hinter den runden Bergkuppen des Siebengebirges, lag die große Stadt Köln. Anselm hatte ihm erzählt, dass der Rhein von dort aus noch viele fremde Landschaften durchquerte, ehe er sich ins endlos weite Meer ergoss, auf dem die Schiffe der Kauffahrer zu fernen Gestaden segelten.
Matthäus, der zu ahnen schien, welche Botschaft die Kraniche seinem Schützling zugerufen hatten, machte ein bekümmertes Gesicht und senkte den Kopf. Schweigend setzten die drei ihre Reise fort.
A UF DER W OLKENBURG
D ie Nachmittagssonne hatte sich längst hinter grauen Wolken verborgen, als der Wald, durch den sie gewandert waren, zurückwich und den Blick auf das Ziel ihrer Reise freigab. Düster und mächtig ragte die Wolkenburg vor ihnen auf. Obwohl Konrad von Matthäus wusste, dass sie erst vor knapp dreißig Jahren erbaut worden war, kauerte sie auf ihrem Berg wie ein uralter Drache, der jeden Moment seine Schwingen ausbreiten und feuerspeiend über das Land fliegen konnte. Der Anblick der gewaltigen Mauern war atemberaubend. Das kleine Kloster von Neuwerth erschien Konrad im Vergleich dazu wie eine Schäferhütte. Konrad starrte zum Bergfried, dem Turm der Burg, hinauf. Wie weit man wohl von seinen Zinnen über das Land schauen konnte?
Raben und Dohlen kreisten um die hohen Mauern, und ihre krächzenden Rufe drangen wie eine vertraute Melodie an Konrads Ohren. Plötzlich überkam ihn die schwache Ahnung, schon einmal hier gewesen zu sein. Er schloss für einen Moment die Augen. War er einst über die weiten Wiesen am Fuß des Burgbergs gelaufen, während Reiter in schimmernden Rüstungen aus den Toren galoppierten? Das Erinnerungsbild – wenn es sich dabei nicht um eine Täuschung seiner Sinne handelte – verschwand sofort wieder, wie eine nebelgraue Vogelfeder, die der Wind davontrug.
Konrad seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Anselm und Matthäus waren ebenfalls stehen geblieben, schienen aber nichts bemerkt zu haben. Der Mönchsritter legte Konrad die Hand auf die Schulter und zeigte auf den Bergfried. »Den Blick von dort oben solltest du dir auf keinen Fall entgehen lassen. Es gibt hier in der ganzen Gegend keinen besseren Aussichtspunkt.«
Konrad schaute Anselm an. »Ihr seid schon einmal auf der Wolkenburg gewesen?«, fragte er.
»Ich habe sogar als junger erzbischöflicher Ritter auf ihr gedient, damals, als Ottokar von Falkenstein noch Burgvogt war. Aber das ist lange her. Zuletzt habe ich seinem Sohn Rainald einen Besuch abgestattet, als ich vor fünf Monaten unterwegs zu eurem Kloster war.«
Matthäus warf mit schriller, nervöser Stimme ein: »Wie war denn Euer Eindruck von den Verhältnissen dort oben? Ich nehme an, Ihr wart froh, diesen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen zu können?«
»Natürlich kenne ich das ganze Gerede, das über den Burgherrn und seine Gemahlin überall in der Gegend verbreitet wird«, entgegnete Anselm. »Aber ich sage Euch: Es ist dummes Geschwätz, weiter nichts. Das werdet Ihr bald selbst feststellen.«
»Man sagt, dass seine Frau eine böse Zauberin ist. Eine Heidin aus den dunklen Wäldern im Osten. Eine von den wilden Leuten.« Konrad hörte sich selbst diese Worte aussprechen, die er aus
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