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Der Mönch und die Jüdin

Der Mönch und die Jüdin

Titel: Der Mönch und die Jüdin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Görden
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zusammengekniffenen Lippen und ohne ihren Onkel anzusehen.
    Nathan sprang wütend auf. »Eine Angelegenheit zwischen Joseph und ihr! Ist das zu fassen? Ein paar Stockhiebe würden sie wohl zur Vernunft bringen!« Er ging ungeduldig auf und ab.
    »Mäßigt Euch, Schwager!«, sagte Ruth überraschend laut und scharf. »Joseph hat unsere Töchter nie geschlagen, und er wird es auch in Zukunft nicht tun.« Sie wandte sich Hannah und Rebekka zu. »Und ihr beiden geht nun auf eure Zimmer. Es ist schon spät, und wie ich euren Vater kenne, wird seine Unterredung mit Herrn Salomon noch länger dauern.«
    Natürlich, dachte Hannah. Er wird ihm die Bibliothek zeigen. Aber sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ihr Vater sie mit Salomon verheiraten würde. Sie dachte wieder daran, was er ihr im Kontor versprochen hatte – und an Ovid.
    Hannahs und Rebekkas Schlafkammer lag nur ein paar Schritte von der Bibliothek entfernt. Die beiden Schwestern eilten die Treppe hinauf. In der Kammer flüsterte Rebekka kichernd: »Erzähl mir nicht, dass du nicht gern lauschen möchtest!«
    »Ach, sei doch still!«
    »Ich würde ihn sofort nehmen«, sagte Rebekka. »Mutter hat recht. Du könntest leben wie eine Prinzessin. Und stell dir vor, er würde dich auf seine Reisen mitnehmen. Wie aufregend! Aber du verbringst ja deine Zeit lieber in der Bibliothek über alten, vergilbten Pergamenten.«
    Reisen wollte Hannah sehr gerne. Sie hatte sich immer vorgestellt, mit ihrem Vater fremde Länder zu erkunden. Doch sie spürte, dass Joseph inzwischen die Kraft fehlte, noch einmal auf große Fahrt zu gehen.
    »Na los! Ich verpetzte dich schon nicht. Du kannst doch die ganze Nacht nicht schlafen, wenn du nicht weißt, was die beiden bereden.«
    Hannah lachte. »Also gut«, flüsterte sie. »Du hast ja recht. Ich krieche also in unseren Geheimgang. Das habe ich schon seit Jahren nicht mehr getan.«
    Ursprünglich hatte Joseph auch im zweiten Stock des Hauses ein Hypokaustum einbauen lassen wollen. Zu diesem Zweck war unter der Bibliothek und den Wohnräumen ein doppelter Fußboden eingezogen worden, durch den die warme Luft hätte strömen sollen, und zwischen der Bibliothek und den Zimmern gab es eine Art Kriechgang, der für die Wartung und Säuberung der Anlage vorgesehen war. Letztlich wäre aber die Beheizung beider Stockwerke zu aufwendig und teuer geworden, und Joseph hatte den Plan schließlich aufgegeben und sich mit der Beheizung des Kontors und des großen Wohnraumes im Erdgeschoss begnügt. Dieser Kriechgang war nicht gemauert, sondern mit Holz verschalt.
    Als Hannah und Rebekka in der Kindheit von diesem Geheimnis erfahren hatten, kamen sie irgendwann auf die Idee, vorsichtig einen Teil der Holzverschalung zu entfernen – und zwar so, dass man die Bretter unauffällig wieder festklemmen konnte. Seither hatten die beiden eine geheime Höhle, in der sie auf Schatzsuche gingen oder gegen gefährliche Drachen kämpften – immer schön leise, damit niemand ihr Geheimnis entdeckte. Und sie fanden eine Ritze, von der aus man in die Bibliothek hineinschauen und belauschen konnte, was dort vor sich ging.
    Das alles war Jahre her, aber die beiden Mädchen konnten noch immer mühelos die Bretter lösen. Mit einer Öllampe kroch Hannah vorsichtig in den Gang und schauderte. Die niedrigen Wände waren voller Spinnweben, der Boden von muffigem Staub bedeckt. Der Gang kam ihr viel enger vor, als sie ihn in Erinnerung hatte. Bei ihrem letzten Besuch hier drinnen war sie eine dünne, schlaksige Vierzehnjährige gewesen. Seither war sie ein ganzes Stück gewachsen – und zwar nicht nur in die Höhe. Ihre füllig werdenden Hüften und Schenkel und ihr Busen behinderten sie nun. Außerdem hatte sie heute sehr viel gegessen.
    Vorsichtig kroch sie bis zu der Stelle, wo sie als Kind so viel Zeit verbracht hatte, weil man von hier aus direkt in die Bibliothek spähen und Josephs Pult und die kleine Sitzgruppe sehen konnte, wo er sich mit Besuchern hinzusetzen pflegte.
    Das Kissen, auf das sie sich als Kind immer gesetzt hatte, lag noch da, war aber so eingestaubt und mit Spinnweben überdeckt, dass Hannah sich nicht darauf niederlassen mochte. Stattdessen kniete sie sich daneben auf den Boden und schaute durch die Ritze in der Holzwand.
    Wenn ihr Vater von weit her angereiste Freunde zu Besuch hatte, zog er sich gern mit ihnen in die Bibliothek zurück, um Geschichten über fremde Länder auszutauschen und über den Gang der Geschäfte zu fachsimpeln.

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