Der Mönch und die Jüdin
ihr in letzter Zeit ganz schön an. Das hatte sie von Ruth geerbt. Sie war fülliger geworden, hatte einen üppigen Busen und volle Hüften bekommen. Sie musste aufpassen, sonst war sie bald so dick und behäbig wie ihre Mutter. Später, wenn sie älter war, würde das in Ordnung sein, aber noch wollte sie beweglich bleiben. Denn da war diese Unruhe in ihr, auf Reisen zu gehen, neugierig hinaus in die Welt zu ziehen!
Bei dem gemütlichen, häuslichen, ganz auf die klassischen weiblichen Aufgaben konzentrierten Leben, das ihre Mutter und auch Rebekka so angenehm fanden, würde sie sich zu Tode langweilen, das wusste sie.
Zwischen den einzelnen Gängen sprach der Kaufmann über seine vielen Reisen, erzählte von der Schönheit Konstantinopels und Bagdads, von Jerusalem und Venedig. Hannah lauschte mit einem brennenden Fernweh im Herzen, und sie sah, wie Josephs Augen leuchteten. Sie merkte, dass ihr Vater sehr melancholisch wurde. Offenbar spürte er, dass für ihn die Zeit des Reisens vorüber war, und schwelgte in vergangenen Abenteuern. Salomon konnte sehr farbig und lebendig erzählen, fast so gut wie Joseph, und er tat es mit einer angenehmen Bescheidenheit, die Hannah bei ihm gar nicht vermutet hätte. Aber wer zu solchem Reichtum gelangt war, hatte vermutlich Eitelkeit und Selbstgefälligkeit gar nicht mehr nötig.
Nun berichtete Salomon von einer kürzlich unternommenen Reise zu seinen Verwandten im maurischen Spanien. »Es ist wirklich erstaunlich«, erzählte er, »welche Wunder Araber, Juden und Christen dort gemeinsam vollbracht haben! Besonders beeindruckt war ich von Cordoba. Diese riesige Stadt nennen die Mauren ›Siegel der Schönheit‹. Dort sind alle Straßen gepflastert und in der Nacht beleuchtet. Es gibt öffentliche Bäder und Hunderte von Moscheen, und statt aus Bechern trinken die Menschen aus funkelnden Kristallgläsern.«
»Ja«, sagte Joseph, »auch ich habe Cordoba vor einigen Jahren besucht. Der Kalif Hakam, der dort einst regierte, war ein wirklich bemerkenswerter Mann, Herrscher und Gelehrter zugleich. Er gründete zwanzig öffentliche Bibliotheken und achtzig Schulen, die von allen seinen Untertanen unentgeltlich besucht werden konnten. Ich wünschte, so etwas gäbe es in Köln. Wären die Menschen hier gebildeter, hätten sie weniger Vorurteile.«
»Da stimme ich Euch zu, Joseph«, sagte Salomon. »Bildung ist für die Charakterformung der Menschen von höchstem Wert. Hakams eigene Bibliothek soll übrigens vierhunderttausend Bücher umfasst haben, von denen der Kalif einen großen Teil selbst kommentiert hat.«
»Ah«, seufzte Joseph. »In der Bibliothek des Kalifen Hakam würde ich gerne meinen Lebensabend verbringen! Das wäre mein Traum vom Glück.« Als er Ruths gekränkten Blick bemerkte, fügte er mit dem verschmitzten Lächeln hinzu, das Hannah so an ihm liebte: »Aber natürlich nur, wenn du bei mir wärest, meine Königin, und wir zusammen in Hakams Palast wohnten! Und Hannah und Rebekka will ich natürlich auch um mich haben. Sonst könnte ich nirgendwo glücklich sein.«
Salomon ben Isaak lächelte und sagte: »Eine so bezaubernde Gemahlin und solch liebreizende Töchter sind in der Tat kostbarer als die größte Bibliothek.« Nun errötete Ruth und schlug geschmeichelt die Augen nieder.
Der reiche Kaufmann aus Speyer fuhr mit seiner Reiseerzählung fort: »Das einstige Kalifat von Cordoba ist inzwischen zwar zerfallen. Aber in den kleinen arabischen Fürstentümern, die sich in dieser Region gebildet haben, stehen Kunst und Wissenschaft weiterhin in hoher Blüte. Araber, Christen und Juden profitieren gleichermaßen von Wissensaustausch und Zusammenarbeit. Nirgendwo in Frankreich, den deutschen und italienischen Landen ist die Kultur so hochentwickelt wie dort. Man pflegt das griechische und römische Erbe, das in vielen christlichen Ländern heutzutage als Teufelswerk verdammt wird. Man erforscht die Himmelsbewegungen, entwickelt neue Instrumente, die den Seefahrern die Navigation erleichtern, lehrt Mathematik und Medizin. Der Leibarzt des Kalifen Hakam hat Leichen öffnen und Bücher mit Zeichnungen vom Inneren des menschlichen Körpers herstellen lassen, die für die Heilkunde von unschätzbarem Wert sind – auch wenn dergleichen in christlichen Kreisen als Sünde gilt.«
»Auch dem rechtgläubigen Juden sollte so etwas Abscheuliches als sündig gelten! In der Tora steht jedenfalls nicht, dass ein solcher Leichenfrevel erlaubt ist«, sagte Onkel Nathan
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