Der Mörder aus dem Schauerwald
aus der
Dunkelheit des Waldes. Es klang wie das Blaffen eines Hundes. Doch noch nie
hatte Gaby einen so dumpfen, kehligen Laut gehört — bei den ,besten Freunden
des Menschen 1 .
Ängstlich suchte ihr Blick unter den
Bäumen.
Weit hinten bewegte sich ein
schimmerndes Licht — nein, ein Tier, das in Riesensätzen nahte. Ein Hund? Ein
gewaltiger Wolf? Das Fell leuchtete, verstrahlte ein grünliches Licht — auch
der Schädel, den dieser Phosphor-Schimmer zur unheimlichen Maske machte.
Gabys Herz dröhnte gegen die Rippen.
Sie wußte instinktiv: Dieses Ungetüm
hatte die Katze getötet. Anders konnte es nicht sein.
Das Tier jagte heran. Was für ein Tier?
Mein Gott! Wir sind verloren.
Verzweifelt suchte ihr Blick nach einem
Versteck.
*
Wenigstens gibt er sich Mühe, dachte
Tim, der früher Tarzan genannt wurde. Zumindest das ist zu loben.
Klößchen runzelte die Stirn.
Zum xten Mal versuchte er, aus
Goldpapier einen Weihnachtsstern zu falten.
„Also, der Stern von Bethlehem ist es
nicht.“ Tim betrachtete das Kunstwerk. „Mit dem als Wegweiser hätten die drei
Könige den besagten Stall nie gefunden.“
„Wir sind ja inzwischen 2000 Jahre
weiter“, knurrte Klößchen. „Heute sehen die Sterne anders aus.“
„Du meinst, die drei Weisen aus dem
Morgenland wüßten nicht, ob sie einen Stern sehen oder einen Satelliten? Dann
bau eine Weihnachts-Raumsonde, einen künstlichen Erdmond. Und nimm auch mal die
rechte Hand. Mit der bist du geschickter.“
„Jaja“, Klößchen grinste. „Ich weiß,
daß ich zwei linke Hände habe. Immer noch besser als gar keine.
Schokoladentafeln kann ich in Rekordzeit öffnen. Das ist wichtiger als diese
Bastelei.“
Sie saßen im ADLERNEST, ihrer
Internats-Bude, am Tisch. Schneeflocken schwebten am Fenster vorbei. Das Radio
— Klößchens Kofferradio — dudelte.
Tim hörte nicht hin. Was er tat, tat er
richtig. Wenn Basteln angesagt war, dann bastelte er; und jeder Handgriff wurde
vom Denken begleitet, gelenkt, kontrolliert. Das nennt man Konzentration. Tim
hatte seit langem begriffen, wie wichtig sie ist. Konzentration war zum großen
Teil das ,Geheimnis 1 seiner guten Zensuren — denn daß er verbissen
büffelte, hatte noch niemand gesehen.
Jetzt endete die Dudel-Musik, und der
Nachrichten-Sprecher vom Dritten Hörfunk-Programm verlas Nachrichten.
Tim hielt inne. Seine kleine Krippe aus
Pappfiguren war fast fertig.
Er legte den Leimpinsel und das winzige
Papp-Schaf weg.
„...ist der 42jährige Hasso Flühter
heute vormittag aus der Landesstrafanstalt entflohen“, sagte der Sprecher. „Flühter
wurde wegen Mordversuchs zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Fünf Jahre
hatte er verbüßt. Flühter gilt als gefährlich. Mittags wurde er in der Nähe von
Kleinfelden gesehen. Er ist 1,79 Meter groß, stämmig, hat Stirnglatze und eine
wulstige Narbe auf der rechten Wange. Er trägt Anstaltskleidung. Sachdienliche
Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.“ Tim schaltete das Radio aus.
„Du, Willi, Gaby ist bei Petra Goehme
in Kleinfelden.“
„Ich weiß.“ Er grinste. „Vielleicht
fangen die beiden ihn ein. Aber von einer Belohnung war nicht die Rede.“
„Kleinfelden ist ein Dorf. Wenn er sich
dort versteckt, kann ihm jeder über den Weg laufen.“
„Bei dem Wetter bleiben Gaby und Petra
im Haus. Außerdem ist Oskar dabei. Der nimmt es mit jedem Mörder auf. Sag mal,
Tim: Wenn einer morden will, aber die Sache verbockt — ist er dann eigentlich
ein Mörder oder ein Mordversucher? Charakterlich, finde ich, macht es keinen
Unterschied. Schlechtigkeit ist Voraussetzung. Nur hat eben der eine mehr
Glück, beziehungsweise er ist geschickter.“
„Für das Opfer ist der Unterschied
gewaltig. In einem Fall ist es nämlich tot, im andern überlebt es. Was das
Charakterliche betrifft, stimme ich dir zu. Aber strafrechtlich wird deutlich
unterschieden, glaube ich, zwischen Mord und Mordversuch.
Eine vollendete Tat ist eben doch
anders als der Versuch. Außerdem kann man einen Versuch abbrechen — im letzten
Moment. Man kann zumindest behaupten, man hätte das vorgehabt. Flühters Fall
kenne ich nicht. Aber zwölf Jahre abknacken — das ist hart. Eine so schwere
Strafe wird nicht umsonst verhängt. Hast ja gehört, er gilt als gefährlich.“
Klößchen nickte und schnippelte an dem
Schweif herum, der zu seinem Stern gehörte.
Kleinfelden!
Tim hatte ein ungutes Gefühl. Das Dorf.
Der Mörder — in Gedanken nannte er ihn so
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