Der Mörder mit der schönen Handschrift
glauben! Mit Ambroisine haben sich die beiden damit bis auf den Tod zerstritten. Sie haben sich nie mehr gesehen.
Sie haben da oben in Malefiance alles Mögliche versucht, der Adlige und sie: Sie haben Pferde, Hasen, Wachteln, Tauben, Bienen und sogar Nerze gezüchtet. Das hat sie dann vollends zugrunde gerichtet. Von dem stattlichen Vermögen blieb nur wenig übrig. Und da sie nun gemeinsam den Zug bestiegen, der sie über zahlreiche Viadukte, durch viele Tunnels und ausgedehnte Pinienwälder ins Kasino nach Nizza brachte, konnte auch die Kleine nicht widerstehen! Um es kurz zu machen: Sie haben beide Selbstmord begangen, aus Armut. An einem Abend, als sie aus dem Kasino von Menton kamen, wo sie gerade ihr letztes Hemd verspielt hatten. Sie waren so taktvoll, sich von einem stockbetrunkenen Autofahrer überfahren zu lassen, der mit hundert Sachen unterwegs war. Sie war auf der Stelle tot, und er starb drei Tage später. Bleibt also nur noch die Tochter …«
»Sie hatten eine Tochter?«
»Ja, so weit haben sie es immerhin gebracht. Sie lebt da oben, in Malefiance, und ist dabei, die Versicherungsprämie durchzu brin gen. Und sie zieht ein paar Landstreicher auf. Das Haus ist ständig von ihnen belagert. Arme Kleine!«
»Wieso arme Kleine?«
»Weil es ein Jammer ist, so jung sterben zu müssen! Stellen Sie sich vor, sie ist gerade mal zwanzig.«
»Ein Grund mehr, um am Leben zu bleiben.«
»Sie wird sterben!«, sagte der Alte energisch. »Genauso wie Violaine im Tal von Chavailles. Und genauso, wie Ambroisine Larchet und Véronique Champourcieux gestorben sind, aus demselben Grund.«
»Und den kennen Sie?«, spottete Laviolette.
Doktor Pardigon schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte er. »Den Grund nicht, aber den Mörder. Das glaube ich wenigstens.«
Laviolette richtete sich mit einem Ruck auf. »Das hätten Sie mir gleich sagen müssen!«
»Pssst. Diesmal ist es aber die Glocke!«
»Nein.«
»Wenn ich es Ihnen doch sage! Hören Sie! Schon zum zweiten Mal!«
Er richtete sich auf und kehrte Laviolette den Rücken. Mit großen Schritten, den Stock behände schwingend, ging er davon, ergriff er die Flucht. In seinem flatterhaften Geist, wo Spaß und Ernst um die Vorherrschaft rangen, war sofort der Gedanke aufgekeimt, seinen Gesprächspartner mal so richtig auf die Folter zu spannen. Laviolette folgte ihm, baute sich vor ihm auf, kreiste ihn ein und versuchte, ihn am Gehen zu hindern.
»So hören Sie doch! Das gibt’s doch nicht! Sie können mich doch nicht einfach so stehen lassen! Am Ende Ihrer Geschichte steht der Tod! Ist Ihnen das eigentlich klar?«
»Vollkommen! Aber morgen ist auch noch ein Tag!«
»Morgen?«, stieß Laviolette voller Verzweiflung aus.
»Was denn? Ja morgen! Was ist denn daran so außergewöhnlich? Morgen!«
Er blieb abrupt stehen und wandte sich Laviolette zu. »Sie sind nicht der Erste, dem ich diese Geschichte erzähle. Und der andere hatte wirklich Geduld. Ihn habe ich zwanzig Tage warten lassen! Und Sie gerade mal zehn!«
»Sie haben die ganze Geschichte schon einmal jemandem erzählt?«, fragte Laviolette verblüfft.
»Richtig! Und in allen Einzelheiten!«
»Aber wann denn?«
»Im Laufe des Sommers.«
»Und wem?«, Laviolette schrie beinahe.
Drüben bei der Freitreppe runzelte die Angestellte, die gerade die Glocke läutete, die Stirn. Sie glaubte, jemand belästige den Abgott des Heims, und so schickte sie sich an, ihm zu Hilfe zu eilen. Man rechnete fest damit, eines Tages seinen hundertsten Geburtstag feiern zu können.
»Morgen! Morgen!«, rief Pardigon und tänzelte ein wenig zur Seite.
Er war im siebten Himmel, weil er diesem ruhigen Zeitgenossen, mit dem er sich immer noch nicht ganz anfreunden konnte, einen kleinen Dämpfer versetzt hatte.
Im Nu war Laviolette in Chabrands Büro. Er traf ihn dort an, das Kinn auf die Hand gestützt und mit der Schnur spielend, die er vielleicht schon bald um die Akte Pencenat, die geöffnet vor ihm lag, zu binden hoffte. Völlig außer Atem ließ sich Laviolette in den Sessel fallen, der für die Vorgeladenen bestimmt war.
»Es gibt da jemanden, der über alles Bescheid weiß!«, platzte es aus ihm heraus.
Ohne auf die Uhrzeit zu achten (der Richter war gerade im Begriff, die kleine Pension anzusteuern, wo er seine Mahlzeiten einnahm), berichtete ihm Laviolette knapp von seiner Unterhaltung mit Pardigon. Er ließ dabei all das aus, was er aus Eitelkeit des Geschichtenerzählers lieber für sich behalten wollte.
»Sie
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