Der Mörder mit der schönen Handschrift
dass jemand fähig ist, dafür einen Mord zu begehen?«
»Ich bin kein Philatelist. Für manische Sammler habe ich keinerlei Verständnis«, sagte der Richter von oben herab. »Für mich sind diese Verbrechen schlicht und einfach von einem Verrückten begangen worden.«
»Und ich sehe darin die Handschrift eines Dichters. Diese Briefmarken da, die waren das goldene Vlies eines jämmerlichen kleinen Dorfschullehrers. Und dabei ging es ihm sicherlich nicht um den kommerziellen Wert.«
Er blätterte in den beiden in kostbares Leder gebundenen Bänden, die vor ihm lagen. Alles, was sich ein armer Mann im Laufe seines Lebens hatte leisten können, um seiner Leidenschaft zu frönen, war dort zu sehen: sorgfältig klassifiziert, tadellos geordnet, erklärt und bewertet. Beim Durchblättern wurde einem deutlich, dass hier jemand die besten Stunden seines Lebens über diesen mit bunten Briefmarken geschmückten Seiten verbracht hatte. Ein leichter Geruch von Kamille haftete an den beiden kostbaren Alben.
Laviolette erstarrte. Mitten unter diesen reich mit Briefmarken aller Art bestückten Seiten befand sich eine vollkommen leere. Sie musste nachträglich eingeschoben worden sein, denn hinter der Seitenzahl war ein bis zu lesen. In der linken Ecke befand sich ein Etikett, auf dem in schöner Schreibschrift angegeben war, worauf diese Seite noch wartete:
Four Pence Red (Serie von 1861)
Auf die Mitte der Seite hatte jemand mit äußerster Präzision und im Originalmaßstab ein kleines leeres Dreieck gezeichnet, um der erhofften Kostbarkeit einen Platz anzuweisen.
»Er hat nur mit einem Exemplar gerechnet«, murmelte Laviolette. »Wie hätte er auch ahnen können, was ihn erwartete?«
Er entfernte sich vom Tisch, um seinen Überzieher umzudrehen, der dampfend über der Stuhllehne vor dem prasselnden Küchenherd hing.
»Ich muss immer nur an die verkohlte Leiche da unten denken, auf die der Regen fällt. Wissen Sie, Chabrand, wenn das Schicksal Ihnen erst einmal die Rolle des Dorftrottels im Bauerntheater zugedacht hat, dann können Sie sich hundertmal auf Ihre Fähigkeiten, auf Ihre Intuition, auf Ihre Skrupellosigkeit und eiskalte Grausamkeit berufen – da ist einfach nichts zu machen. Trotz Ihrer Verbrechen, vor denen Sie natürlich keineswegs zurückschrecken, sind am Ende Sie der begossene Pudel. Und wenn das Schicksal Sie anders nicht kriegen kann, dann wirft es eben mit Blitzen nach Ihnen! Und danach können Sie nicht einmal mehr in den Chor der Mönche bei Rabelais einstimmen: Lebt wohl ihr Körbe, der Wein ist schon gelesen. «
»Sie scheinen ja den Schuldspruch des Schicksals geradezu zu bedauern.«
»Ich hätte mir gewünscht …«, begann Laviolette. »Aber das können Sie nicht verstehen! Er hat sie ja nicht einmal zu sehen bekommen, diese Briefmarken. Dafür wir. Wir, die wir uns nicht das Geringste daraus machen. Wir, die wir sie für das halten, was sie letztlich sind, bunte Papierschnipsel. Und wir können uns jetzt in aller Ruhe an ihnen sattsehen.«
Er verstummte. Noch immer hielt er den Wisch aus grauem Papier in der Hand und fingerte nervös daran herum.
»Chabrand«, sagte er unvermittelt, »sind Sie in der Lage zu verstehen, was ich Ihnen jetzt vorschlagen werde?«
Der Richter sah ihn fragend an, ohne zu antworten.
»Wissen Sie, mir ist da gerade etwas eingefallen, als mir klar wurde, wie viel diese Kindereien wert sind. Man kann sich leicht vorstellen, wie das weitergeht. Der Brief kommt in irgendein Museum, wo er in einem Glaskasten vor sich hin gammelt. Irgend ein steinreicher Spinner wird ihn früher oder später mit Hilfe eines bezahlten Ganoven seiner Sammlung einverleiben. Schauen Sie sich die Dinger doch an, sogar ein Diamant lässt sich weniger leicht verstecken.«
»Das ist doch aberwitzig«, meinte der Richter.
»Eben! Deshalb sollten Sie … Ich meine, Sie könnten das Ding doch einfach in Ihrer Brieftasche verschwinden lassen. Irgendwo auf dieser weiten Welt einen guten Preis dafür aushandeln. Sie sind jung, Sie können behaupten, Sie steckten in großen finanziellen Schwierigkeiten. Mit dem Brief da gehört die Welt Ihnen! Die Bermudas, die Blumenmädchen von Tahiti, die Vögel auf den Galapagosinseln, was weiß ich noch alles. Wir verbrennen das Heft mit den Abenteuern unseres Lehrers. Die Lebensgeschichte auch. Und was den Rest angeht, überlassen Sie es mir, eine plausible Erklärung dafür zu finden. Die Trommel war eben leer. Was gibt es da noch zu begreifen? Wer sollte
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