Der Mörder mit der schönen Handschrift
erinnere mich: Trotz allem, was ich bereits im Schilde führte, war ich zu dieser Zeit noch ein Mensch wie alle anderen auch. Ich hatte eine Leidenschaft, aber ich hielt sie für harmlos.
Warum nur hat letzten Sommer plötzlich die Idee von mir Besitz ergriffen, die Tapete meines Zimmers zu erneuern, die ich doch schon so viele Jahre ertragen hatte? Warum nur musste ich darunter diesen verschlossenen und zugeklebten Wandschrank entdecken und darin diese Denkschrift mit ihren zahlreichen Nachweisen für das, was festgehalten werden sollte? Da musste wohl jemand, ähnlich wie ich, viel Zeit übrig gehabt haben, Zeit, die er nutzte, um den Stammbaum einer Familie genau zu rekonstruieren. Ihm schien es nur darum gegangen zu sein, Beweise dafür zu erbringen, dass in unseren abgelegenen Tälern das Recht des Erstgeborenen aufgrund schweigender Übereinkunft noch lange Zeit fortbestand. Eine Arbeit, an deren Fertigstellung ihn vermutlich der Tod gehindert hat …
Warum habe ich von da an begonnen, mich für meine eigene Herkunft zu interessieren? Weil mir bei der Lektüre dieser Aufzeichnungen hin und wieder ein Verdacht gekommen war? Und vor allem, warum habe ich diesen Doktor Pardigon aufgesucht, von dem in den Aufzeichnungen die Rede war, und warum hat der mir die ganze Geschichte der Melliflores erzählt, ohne auch nur das geringste Detail auszulassen, obwohl sie mich im Grunde doch gar nichts anging? Damit habe ich meine eigene Büchse der Pandora geöffnet.
Von da an war ich mit meinem Moped ein ständiger Gast in den Tälern, die von der Bléone abzweigen, und schließlich erlangte ich Gewissheit, was meist dann zu geschehen pflegt, wenn man besser im Ungewissen bliebe.
Von da an ging es mir wie allen Träumern. Das Wort Schatz und dazu noch all diese Einzelheiten über den Postboten Melliflore, die dieser Doktor Pardigon – übrigens ein boshafter Schwätzer – in meiner Gegenwart so ausführlich geschildert hatte, das alles ging mir nicht mehr aus dem Kopf, stachelte mich an, darüber nachzudenken und mich zu überzeugen. Mich zunächst einmal davon zu überzeugen, dass der Schatz mir gehörte, wenn er denn existierte. Mich danach davon zu überzeugen, dass ich das Recht hatte, ihn mir zurückzuholen. Und vor allem verlockte mich all das, was ich erfahren hatte, dazu, mir gleichzeitig während meiner schlaflosen Nächte auszumalen, worin denn dieser Schatz bestehen könnte …
Was um alles in der Welt konnte in einem ›Karren voller Plunder‹, wie sich Doktor Pardigon ausgedrückt hatte, der Aufmerksamkeit zweier Geizhälse entgangen sein, die doch nach ihrer Gewohnheit den Inhalt sicherlich peinlich genau nach Brauchbarem durchsucht hatten?
Darüber hinaus ergab sich eine weitere, nicht minder beunruhigende Frage: Wie konnte dieser Schatz, dessen Existenz Gaétan Melliflore dem Doktor Pardigon verraten hatte, über alle Erbfälle hinweg, die seither bei den Melliflores eingetreten waren, unentdeckt geblieben sein? Wie hatte ihn der Großvater, der ihn nicht mal mit seinen Nachkommen teilen wollte, vor allen Augen verstecken können? Wer um alles in der Welt ließ ihn lieber für immer ruhen und nahm in Kauf, dass er sich im Lauf der Zeit in Nichts auflöste? Und wo zum Teufel, an welchem geheim gehaltenen Ort?«
Der Mann unterbrach seine Niederschrift und warf seinen Füllfederhalter verärgert auf das Heft. Er führte eine Hand an den Mund und kratzte mit den Fingernägeln an den Zähnen, wie um seinen quälenden Überlegungen nach außen hin Ausdruck zu verleihen.
Er betrachtete das Bild vor sich, das er zwischen seinen Unterlagen entdeckt hatte und das jetzt aufrecht gegen die Kanne mit Kamillentee gelehnt stand. Es war eine bräunliche Postkarte, auf der eine Person in Fellmütze und mit einem Schurz aus Schweinsleder zu sehen war, die wie ein Pionier der Grande Armée Napoleons aussah. Eine kränkliche Kreatur, klein, mit verstohlenem, scheuem Blick und eingefallenen Wangen, deren Persönlichkeit sich völlig in dem nach oben gezwirbelten Schnurrbart zu verkörpern schien, der die ganze untere Gesichtshälfte bedeckte. Dieses alte Foto von 1919 war mit folgender Erklärung versehen: Malerische Berufe von einst: Der Ausrufer von Digne.
Der Mann griff nach der alten Karte, hielt sie vor die Lampe und betrachtete sie aufmerksam aus jedem Winkel, als ob sie ihm ein Geheimnis verraten könnte. Schließlich legte er sie seufzend zurück und schrieb weiter.
»Ich lasse mich nur von Intuitionen leiten.
Weitere Kostenlose Bücher